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Die Güterverkehrsliberalisierung belebt den Rangierbahnhof an der Südgrenze

In Chiasso wird wieder mehr rangiert

Jahrelang hing das Leben des Rangierbahnhofs Chiasso an einem seidenen Faden. Doch nun scheint «Chiasso smistamento» im europäischen Güterverkehr wieder eine wichtige Rolle zu spielen, wenn auch eine etwas andere als früher.

Der Rangierbahnhof (RB) Chiasso wurde 1967 für 163 Mio. Franken gebaut und etwa bis zur Jahrtausendwende sehr intensiv genutzt. Danach machte der Abbau der Zoll- und sonstigen Formalitäten an der Grenze einen grossen Teil der Rangierarbeiten überflüssig. Durch die Rationalisierung des Schienengüterverkehrs, etwa durch die Konzentration auf Blockzüge, sank die Zahl der Rangierbewegungen im RB Chiasso weiter. So schien sein Schicksal besiegelt, zumal er auch im Binnenverkehr immer unbedeutender wurde: Heute wird der grösste Teil des Kantons Tessin direkt vom RB Limmattal aus bedient. Dennoch beschloss die SBB 2009, den Ablaufberg, also das Herz des RB, zu erneuern – zur grossen Erleichterung aller betroffenen Kreise.

Renaissance des RB Chiasso

Dieser Entscheid erwies sich in den folgenden Jahren als richtig. Denn wie verschiedene Stimmen, darunter der SEV, stets unbeirrt vorausgesagt hatten, führte die Verkehrsverlagerung von der Strasse auf die Schiene auf der Gotthard-Achse zu erheblichem Mehrverkehr, was sich auf den RB Chiasso positiv auswirkte.

Hinzu kam der laufende Abbau des Einzelwagenladungsverkehrs in Italien und damit fast aller Rangierbahnhöfe im südlichen Nachbarland. Übrig blieben nur wenige RB, die von einzelnen Eisenbahnverkehrsunternehmungen (EVU) betrieben werden und von der Grösse her mit Teambahnhöfen von SBB Cargo in der Schweiz vergleichbar sind. Manche EVU haben begriffen, welches Potenzial im RB Chiasso steckt, und nutzen ihn als Zustellplattform an der Nordgrenze Italiens. Es sind fünf EVU aus dem Norden und neun aus dem Süden, welche die Bedeutung der Einzelwagen wiederentdeckt haben, darunter vor allem die DB. Die Wagen werden in Nordeuropa eingesammelt und gebündelt nach Chiasso geführt, wo sie für ihre Weiterfahrt an italienische Bestimmungsorte neu sortiert werden.

2011 und 2012 wurden im RB monatlich 8000 bis 10000 Wagen rangiert, heute sind es 12000 bis 14000, wobei die Monatsspitzen weit höher liegen können: Diesen Mai waren es 15886 Wagen, so viele wie seit 2008 nie mehr. Und dieser Aufwärtstrend hält an.

Beitrag zur Verlagerung

Nach einer Schätzung der SBB sind 2010 auf der Gotthard-Achse in Einzelwagen 4,7 Mio. Tonnen Güter transportiert worden, rund doppelt so viele wie am Brenner. Diese Menge entspricht rund zwei Ðrittel des Transits durch die Schweiz, während ein Drittel über die Lötschbergachse geführt wird. Die Gotthard-Achse wird vorgezogen, weil die Wagen im RB Chiasso für die Weiterfahrt in die norditalienischen Industriezentren sortiert werden können. Mit einer Schliessung des RB Chiasso würde man riskieren, dass rund ein Drittel der über die Gotthardlinie geführten Güter auf die Strasse verlagert würde, was bis zu 800 Lastwagen entspräche.

Der RB Chiasso ermöglicht zudem, die Kapazität der Basislinie bestmöglich zu nutzen, indem die Sortierung der Güterwagen nach ihren Bestimmungsbahnhöfen erst am Südende der Linie erfolgt.

Ausbauten in Sicht

So kommt es, dass der RB Chiasso nach jahrelangem Bangen um seine Zukunft heute plötzlich Mühe hat, die Nachfrage nach seinen Dienstleistungen befriedigen zu können. Zu diesen gehört auch seine Pufferfunktion: Immer wieder gibt es Wagen, die vor der Weiterfahrt repariert oder sonst ausgereiht werden müssen, zum Beispiel wegen besonderer Erfordernisse der Zugbildung.

Die SBB hat vor Kurzem angekündigt, 280 Mio. Franken in den RB Chiasso zu investieren. Ein Teil davon ist für den Ausbau der Gleisanlagen für den Güterverkehr vorgesehen. Insbesondere soll das Gleisfeld U für den Nord–Süd-Verkehr 14 Gleise von 750 m Länge erhalten. Auch soll der Nord–Süd-Verkehr unabhängig von jenem in der Gegenrichtung (der über das Gleisfeld C hinter dem Personenbahnhof läuft) fliessen können. So wird künftig vermieden, dass der Süd–Nord-Verkehr vom RB aus den steilen Tunnel Richtung Balerna nehmen muss.

Mehr Luft auch für das Personal

Diese Entwicklung wirkt sich auch für das Personal positiv aus. So ist die Zahl jüngerer Kollegen in letzter Zeit wieder angestiegen, und zwar auch dank Neuanstellungen, wovon es zuvor während Jahren keine mehr gegeben hatte.

Hoffentlich geht diese positive Entwicklung weiter und schafft mindestens so viele neue Stellen, wie durch die modernen Anlagen allenfalls wegfallen. So sichert die Verkehrsverlagerung Stellen bei der Bahn.

Pietro Gianolli/Fi