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Bildungstagung der SEV-Frauen

Stolz oder Vorurteil? Geschlechterrollen im Wandel

Die SEV-Frauen treffen sich traditionsgemäss Ende November zu ihrer Bildungstagung. Dieses Jahr waren die Themen zwar theoretisch, aber interessant. Vier Referentinnen stellten ihre Forschungsarbeit vor.

Violette Wicky und Marie-Thérèse Godel verlassen die SEV-Frauenkommission nach Jahrzehnten gewerkschaftlichen Engagements.

Lucie Waser, Gleichstellungsbeauftragte SEV, und Manuel Avallone, Vizepräsident SEV, konnten zahlreiche Teilnehmerinnen in Bern begrüssen.

Blau und rosa seit Geburt

Die erste Rednerin, Andrea Maihofer, arbeitet am Institut für Geschlechterforschung der Universität Basel. Ihre Studien basieren auf der Arbeitsteilung in den Haushalten und der Entwicklung von Familien. Zudem unter- sucht sie Bildung und Karriere junger Schweizerinnen und Schweizer. In ihrer Präsentation erzählte sie, wie ein Baby seit seiner Geburt anders behandelt wird, je nach dem, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist. Eltern, die diese Unterscheidung nicht machen, werden kritisiert.

Ganz selbstverständlich sagen wir zu einem Mädchen: «Wie süss die Kleine ist!», während ein Junge eher hört: «Das wird ein kräftiger Bursche!» Andrea Maihofer zählte Vorurteile aller Art auf, die bis heute stark in unserer Gesellschaft verankert sind. Mithilfe von zahlreichen Bildern illustrierte sie ihre Aussage und öffnete die Augen für versteckte Vorurteile.

Mobilität: starke Bilder

Auch Johanna Rolshoven vom Institut für Kulturanthropologie der Universität Graz brachte viele Bilder mit. Ihr Referat handelte von Mobilität gestern und heute, auch in Verbindung mit anderen Bereichen. Mit ihren Bildern zeigte Rolshoven, dass die Frauen im vergangenen Jahrhundert eine «vernachlässigbare» Gruppe waren, und zwar bei allem, was mit Technik oder Motorsport zu tun hatte, aber auch in anderen Domänen.

Mobilitätsstudien wurden von Männern für Männer gemacht. Lange glaubte man, die Vertreter des männlichen Geschlechts seien mobiler als die des weiblichen, was natürlich überhaupt nicht der Fall war! Frauen bewegen sich gerne zu Fuss oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und sie haben ein grösseres Bewusstsein für die Umwelt. Lange Zeit betrachtete man sie jedoch als zu zerbrechlich, um sich alleine fortzubewegen. Die grossen Meister der Formel 1, des Radsports usw. sind ganz sicher und ausschliesslich Männer.

Johanna Rolshoven stellte eine Serie von Frauen vor, die Pionierinnen in Männerdomänen wie der Aviatik oder der Eisenbahn waren. Dieses Thema rief am Ende des Vortrags Diskussionen hervor – viele der anwesenden Frauen waren selbst mit Schwierigkeiten konfrontiert, als sie in der Welt der Eisenbahner Fuss fassen wollten.

Am Tagesende verabschiedete Lucie Waser Violette Wicky und Marie-Thérèse Godel, die beide seit langer Zeit Mitglieder der Frauenkommission waren (Wicky seit 20 Jahren und Godel seit 31 Jahren). Die nächste Bildungstagung findet am 24. November 2017 statt und behandelt den Umgang mit Gewalt.

Henriette Schaffter / kt

Das Körperbild als Menschenbild

«Liebe Menschen mit Menstruationshintergrund» – so begrüsste die politische Philosophin und Autorin Regula Stämpfli die Zuhörerinnen zu ihrem Vortrag. Sie erklärte den Wandel der Geschlechterrollen zunächst aus philosophischer Sicht: «Das Menschen- bild ist ein Körperbild geworden. Der Mensch wurde zum Jahrgangs-, Kilo- und Zentimeterverhältnis degradiert.» Dieses Menschenbild definiert nun Politik, Wirtschaft, Kultur und die Medien, was Stämpfli zum medialen Wandel bringt.

In den Medien stören sie die geschlechtsspezifischen Zu- weisungen in Politik- und Wirtschaftssendungen. «Das Muster ist immer gleich: Die Frau fragt, der Mann antwortet.» Laut Stämpfli haben Frauen eine achtmal höhere Chance, mit Bild zu erscheinen, als mit Name und Funktion. Die mediale Öffentlichkeit bringt Menschen – und vor allem Frauen – nur noch gemässihrem körperlichen Schauwert. Regula Stämpflis Aufruf ans Publikum lautete zum Ende: «Mühsam sein, wütend sein. Schluss damit, so nicht.»

Megatrend Digitalisierung

Die letzte Rednerin des Tages, Marta Kwiatkowski vom Gott- fried Duttweiler Institut, trug ihre Forschung im Bereich der Digitalisierung vor. Sie zeigte, dass sich die Technologie exponentiell entwickelt. Dazu zitierte sie eine Marktstudie von Daimler Benz aus dem Jahr 1900: «Die weltweite Nachfrage nach Autos wird eine Million nicht übersteigen, insbesondere wegen der begrenzten Anzahl an Chauffeuren.» Aus unerwarteten Entwicklungen entstehen Megatrends, wie zum Beispiel die Globalisierung. «Ein Megatrend steht aber nie alleine da, sondern immer begleitet von einem Gegentrend», sagte Kwiatkowski. So ist der Gegentrend zur Digitalisierung der «Digital detox», das Abschaltenwollen.

Durch die Digitalisierung wird die gesamte Gesellschaft fluid, die Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Räumen, zwischen Arbeit und Freizeit lösen sich auf, und mit ihnen der örtliche Bezug. Wir sind immer mehr vernetzt, wodurch auch die Mobilität fluid wird. Eine besorgte Zuhörerin fragte: «Ist dieses Leben noch lebenswert?» Kwiatkowski beruhigte: «Wir wachsen in diese Gesellschaft hinein». Sie verwies auf die «Digital natives», die mit der Digitalisierung aufgewachsen sind und nichts anderes kennen.

Karin Taglang