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SEV-Präsidium

Ciao e grazie Giorgio!

Giorgio Tuti ist ein ausgezeichneter Redner. Hier spricht er am Kongress 2019 nach dem offiziellen Start der 100-Jahr-SEV-Feierlichkeiten am Vorabend.

Am 31. Januar endet die Zeit von Giorgio Tuti als Präsident des SEV. Am Kongress im Oktober wurde er gross verabschiedet, nun schliesst er sein 25-jähriges berufliches Engagement für den SEV ab, 14 Jahre davon war er Präsident. Das ist der Moment, um mit ihm auf diese Zeit voller schöner und auch weniger schöner Momente zurückzublicken.

Am 12. Januar, als wir in diese 25 Jahre eintauchen, ist Giorgios Büro schon beinahe leer. In seinem Kopf hingegen hat es viele schöne Erinnerungen, jedoch auch Enttäuschungen.

Wir wollen aber doch wissen, welches der schönste Moment war. «Es gibt wirklich sehr viel Schönes, aber die Mobilisierung des SBB-Personals auf der Schützenmatte, um vom Bund 1,148 Milliarden Franken für die Sanierung der Pensionskasse SBB zu erhalten, sticht heraus. Im Herbst 2009 kamen gegen 10'000 Personen! Ihre Entschlossenheit und ihr Einsatz haben mich fasziniert. Sie haben sich engagiert und damit ein ausserordentliches Resultat erzielt! Zu den weiteren besonderen Erinnerungen gehört die Entwicklung der Vertragspolitik nach dem ersten Abschluss des GAV SBB/SBB Cargo 2001. Wir haben heute über 70 starke, hochstehende GAV, auf die wir stolz sein können. Der öffentliche Verkehr ist eine sehr gut abgesicherte Branche, und dies dank dem gewerkschaftlichen Einsatz jedes unserer Mitglieder.»

Die insgesamt gute Sozialpartnerschaft hat sich in den letzten 20 Jahren laufend entwickelt. Giorgio betont jedoch die Tendenz weg von Direktoren hin zu CEOs: «Bei der SBB war Andreas Meyer ein CEO. Er verkörperte diesen Typ des Managers, weit weg von den Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern. Wir erinnern uns alle ans Sparprogramm RailFit. Heute ist es viel wichtiger, das Personal anzuhören, weil der öffentliche Verkehr vor einem grossen Generationenwechsel steht, wenn die so genannten Babyboomer in Rente gehen. Um attraktive Arbeitsbedingungen zu bieten, muss man zwingend auf die Anliegen des Personals achten, das den Betrieb Tag für Tag am Laufen hält. Wer auf die Beschäftigten eingeht, zeigt ihnen Vertrauen und Wertschätzung. Mit ihnen zusammen entwickelt sich der öffentliche Verkehr weiter. Das liegt auch im Interesse der Unternehmen.»

Historische Kämpfe

Nach diesem Exkurs beginnen Giorgio Tutis Augen zu leuchten, als er sich an verschiedene Streiks von historischer Bedeutung erinnert. «Im Tessin waren die Streiks der Officine 2008 und der Schifffahrt 2017 unglaubliche Momente für den Erhalt der Arbeitsplätze und der regionalen Wirtschaft. Auch die beiden Streiks bei den TPG 2014 und 2022 behalte ich für immer in Erinnerung. Wir haben nie gestreikt um des Streikes Willen, sondern wir haben dieses rechtmässige Kampfmittel eingesetzt, wenn alle andern Mittel ausgeschöpft waren. Jedes Mal haben wir damit Erfolg gehabt!»

Politische Erfolge

Bekanntlich ist der SEV in der Verkehrspolitik sehr aktiv, um den rechtlichen Rahmen zu beeinflussen, der sich auf die Arbeits- und Anstellungsbedingungen des Personals und die Arbeitsplätze in der Branche auswirkt. So hat sich Giorgio Tuti in den über 14 Jahren als Präsident beispielsweise unablässig gegen eine Aufspaltung der Fernverkehrskonzessionen in der Schweiz eingesetzt. «Hier ist der SEV seiner Überzeugung gefolgt, dass Konkurrenz im Fernverkehr zwingend zu Dumpingsituationen führen muss, wenn die Anbieter mit Rabattangeboten auf den Preis drücken. Die Spannungen zwischen BLS und SBB vor einigen Jahren hätten zu einem Desaster führen können. Mit unserem Lobbying haben wir uns für die guten Arbeitsplätze gewehrt.»

Giorgio Tuti, der immer bereit ist, ein Megaphon zur Hand zu nehmen, bekommt glänzende Augen, wenn er an die Transparente gegen Flixbus denkt, als dieser die Schweizer Bahnen konkurrenzieren wollte, indem er auf internationalen Linien das Kabotageverbot verletzte. «Das Bundesamt für Verkehr hat danach Versuche mit Fernverkehrskonzessionen für Busse gemacht, bevor es dann seine Strategie für den öffentlichen Verkehr aus dem Jahr 2014 überarbeitet hat. In der neuen Version von 2019 war die Konkurrenz kein Thema mehr. Man hatte unsere Kritik gehört. Im Übrigen möchte ich die hohe Zustimmung zur Finanzierung der Bahninfrastruktur (Fabi) bei der Volksabstimmung von 2014 hervorheben. Damit sind die finanziellen Mittel für die Entwicklung der Bahn und ihrer Arbeitsplätze gesichert.»

Die schlechtesten Erinnerungen

Neben all den schönen Erinnerungen und Erfolgen hat Giorgio in diesen 25 Jahren auch schmerzliche Momente durchlebt. Da muss er nicht lange überlegen: «Der Tod von Präsident Pierre-Alain Gentil nach sehr kurzer Krankheit kam völlig unerwartet. Wir haben uns in die Sommerferien 2008 verabschiedet und nie wieder gesehen. Das war äusserst hart. Es blieb eine Leere und grosse Traurigkeit. Wir mussten in einer sehr schwierigen Zeit wieder auf die Beine kommen. Ich habe die Führung interimistisch übernommen, dies mit der Unterstützung von Barbara Spalinger – die Vizepräsidentin geblieben ist, obwohl sie schon den Rücktritt erklärt hatte – und mit der Hilfe des eben erst gewählten Vizepräsidenten Manuel Avallone und des Finanzchefs Ruedi Hediger.»

Bei der Sozialpolitik erwähnt Giorgio Tuti die Erhöhung der Frauenrenten von 64 auf 65 Jahre durch AHV 21, die Ablehnung von AHV plus und den generellen Rückgang der Renten als Folge der Schwäche der 2. Säule, die einen schalen Nachgeschmack hinterlassen. «Nun müssen wir unsere ganze Energie für die 13. AHV-Rente einsetzen.»

Die durch Corona geprägten letzten Jahre haben nicht nur Schlechtes gebracht, findet der abtretende Präsident, denn sie haben zu Veränderungen bei den Arbeitsmethoden geführt. «Wir haben uns dafür eingesetzt, dass die Löhne zu 100 % bezahlt werden, wir haben alles gegen Stellenabbau unternommen, die Unternehmer auf den Gesundheitsschutz der Mitarbeitenden verpflichtet und uns dafür eingesetzt, dass die Unternehmen finanzielle Unterstützung bekommen. Unsere Bemühungen waren rundum erfolgreich, zum Wohl der ganzen Branche.»

«Zeit zu gehen»

Mit einem gewissen Stolz erinnert sich Giorgio Tuti schliesslich an das 100-Jahr-Jubiläum 2019, als der SEV mit seinem Ausstellungsbus auf Schweizer Tournee ging. «Das war ein starkes Zeichen, denn wir sind zu unseren Mitgliedern gegangen, so wie wir halt sind. Eine Gewerkschaft, die in den Unternehmen verankert ist, mit Sektionen direkt bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie bringen ihre Ansprüche beim Gewerkschaftsapparat des SEV und den Arbeitgebern ein.»

Diese Nähe der Mitglieder wird er am meisten vermissen, «die Versammlungen, zu denen ich immer gerne gegangen bin, um offen über die Probleme am Arbeitsplatz zu diskutieren. Als Gewerkschaftssekretär habe ich gerne mit ihnen Forderungskataloge aufgestellt und bin mit ihren Verhandlungsdelegationen zu den Unternehmen gegangen. Es gibt nichts Schöneres als die Freude im Gesicht der Beschäftigten, die sich eingesetzt und ein gutes Resultat erzielt haben.»

Trotz all der schönen Erlebnisse sei es nun Zeit zu gehen. «Wenn man die Amtszeiten der SEV-Präsidenten betrachtet, haben es nur zwei länger gemacht als ich. Die meisten blieben um die zehn Jahre. 14 Jahre sind genug. Wenn man sich zum Aufhören entscheidet, spürt man erst, wie gross der Druck immer war. Seit dem Auftauchen der Smartphones muss man immer verbunden sein, was die Aufgabe noch anstrengender macht. Und ich war nicht besonders gut darin, das Privatleben und das Berufsleben auseinanderzuhalten. Ich habe gegeben, was ich konnte, und ich gehe mit gutem Gewissen, denn der SEV steht gut da. Wir haben ein starkes 2022 hinter uns, was die neuen Mitglieder angeht. Das sind gute Aussichten.»

Präsident in Europa

Auch wenn Giorgio Tuti als SEV-Präsident abtritt, bleibt er natürlich SEV-Mitglied. Zudem führt er sein Mandat als Präsident der Bahnsektion der ETF und des Europäischen Sozialen Dialogs weiter.

Darüber hinaus will er sich verstärkt seinem Privatleben widmen und ist offen für Neues. Ein Schlusswort? «Vielen, vielen Dank allen Mitgliedern und dem gesamten SEV-Personal für diese wunderbaren Jahre!»

Vivian Bologna / Übers. Peter Moor
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