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Teuerung und Stellenabbau

Bahnstreik in Grossbritannien

Vor dem Hintergrund einer galoppierenden Inflation und drohendem Stellenabbau durch Restrukturierungen und Bahnschalterschliessungen haben in Grossbritannien am 21., 23. und 25. Juni mehr als 40i000 Eisenbahner:innen die Arbeit niedergelegt. Wird Boris Johnsons angekündigter Rücktritt als Vorsitzender der Konservativen, wenn auch noch nicht als Premierminister, die Lage ändern? Fortsetzung folgt.

RMT-Generalsekretär Mick Lynch ist während dem Streik in ganz Grossbritannien bekannt geworden. Foto: RMT.

An drei heissen Sommertagen blieben die Bahnhöfe im ganzen Land leer, die Londoner U-Bahn stand praktisch still und wer konnte, arbeitete zu Hause. Am Dienstag, Donnerstag und Samstag nach Sommeranfang erlebte das Vereinigte Königreich den grössten Bahnstreik seit 1989. Mehr als 40'000 Eisenbahner:innen legten England, Schottland und Wales lahm, kaum einer von fünf Zügen fuhr. Ein historischer Streik.

Mick Lynch, der Generalsekretär der Rail and Maritime Transport Union (RMT), besuchte die Streikposten in den Bahnhöfen und gab TV-Interviews, die in den sozialen Medien viral gingen. So wurde der zuvor weitgehend Unbekannte in einer Woche zu einer nationalen Figur. Und je höher in den Umfragen seine Popularitätswerte und die des Bahnpersonals stiegen, desto tiefer fielen jene von Premierminister Boris Johnson.

Die RMT vertritt ausser dem Lokpersonal, das seine eigene Gewerkschaft ASLEF hat, all die vielen anderen Bahnberufe: das Schalterpersonal, die Kontrolleure und Zugchefinnen, das Empfangspersonal, das Instandhaltungs- und anderes technisches Personal, die Fahrdienstleiter:innen, das Reinigungspersonal usw. Viele Bahnangestellte sind in Grossbritannien schlecht bezahlt, verdienen weniger als das Durchschnittseinkommen. Die Streikbewegung ging von den RMT-Mitgliedern beim Infrastrukturbetreiber Network Rail aus, der den Grossteil des britischen Eisenbahnnetzes besitzt, und weitete sich auf die anderen 13 englischen Eisenbahnbetreiber aus. Wie konnte es dazu kommen?

Sinkende Kaufkraft

Das Bahnpersonal hat vor allem rasch viel Kaufkraft verloren. In Grossbritannien lag die Inflation im Mai bei 9,1 % und soll im Herbst laut Prognosen der Bank of England 11 % erreichen. Gleichzeitig sind im privaten Sektor auch die Löhne stark gestiegen (8 %), hauptsächlich aufgrund von Bonuszahlungen, im öffentlichen Sektor aber nur um 1,5 %. Für die rund 5,7 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst bedeutet dies eine massive Reallohnsenkung nach einem Jahrzehnt von Sparmassnahmen. Als Ausgleich fordert die RMT eine Lohnerhöhung von 7 %. Doch die 13 Eisenbahnunternehmen, die privatrechtlich organisiert sind, aber von der öffentlichen Hand reguliert werden, bieten nur 3 % an.

Ein weiterer Grund für den Unmut des Bahnpersonals sind die Pläne zur Umstrukturierung der Standorte für die Instandhaltung und zur Schliessung von Bahnschaltern, womit Tausende von Arbeitsplätzen wegfallen würden.

Drastische Umstrukturierungspläne

Die RMT warnt, dass Network Rail in der Instandhaltung mindestens 2500 Stellen streichen will, um 2 Milliarden Pfund einzusparen, was nach Ansicht der RMT die Sicherheit des Netzes gefährdet. Zusätzlich sollen unzählige Schalter geschlossen werden. Mick Lynch dazu in der Gewerkschaftszeitung: «Wenn wir diese Massnahmen nicht bekämpfen, dann haben die Bahnchefs freie Hand, Arbeitsplätze zu streichen, Schalter zu schliessen, Tarifverhandlungen abzuschaffen und die über Generationen erkämpften Errungenschaften bei den Arbeitsbedingungen zu beseitigen, um noch mehr Profit zu erzielen und das Geld aus der Branche abzuschöpfen.» Die Eisenbahngesellschaften haben im letzten Jahr Gewinne von mindestens 500 Millionen Pfund erzielt.

Entgegen der Hoffnung der Regierung, die Eisenbahner:innen als verlorene Dinosaurier im digitalisierten 21. Jahrhundert darzustellen, bissen sich Minister und Leitartikler die Zähne an einem ruhigen, gewandten und geistreichen Mick Lynch aus, der die lächerlichen Klischees seiner Widersacher umzudrehen wusste und die Forderungen seiner Mitglieder gut begründete. Umfragen bestätigten, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Forderungen der RMT unterstützt und einen starken Abbau beim Bahnpersonal ablehnt. Verkehrsminister Grant Shapps überbot sich mit asozialen Äusserungen. Er erklärte, die Streiks seien «unnötig und das Werk von Gewerkschaftsführern, die auf Streit aus sind», und beschuldigte die RMT, sie wolle «Millionen von Unschuldigen bestrafen».

Wie geht es weiter?

Der Kampf der Eisenbahner:innen ist populär, ihr Unmut über die sinkende Kaufkraft wird von vielen geteilt. So könnten im Verlauf des Sommers auch die Bus- und Strassenbahnfahr:innen die Arbeit niederlegen und die Angestellten im Bildungs- und Gesundheitswesen ebenfalls nachziehen, ebenso die Postangestellten oder die Rechtsanwälte. Unterdessen hat die Bewegung eine 14-tägige Pause eingelegt, die für eine neue Streikankündigung nötig war.

Zugleich scheint sich die politische Entwicklung zu beschleunigen. Premierminister Boris Johnson ist mit seiner Akrobatik schliesslich über seine eigenen Füsse gestolpert und musste nun seinen Rücktritt als Chef der Konservativen ankündigen. Doch die Downing Street 10 wird er wahrscheinlich nicht vor dem Oktober verlassen. «Die gute Nachricht ist, dass der schlechteste Premierminister der modernen britischen Geschichte abtritt. Die schlechte Nachricht ist, dass er noch nicht weg ist», schrieb der «Guardian». Wird die Bahnrestrukturierung trotzdem umgesetzt? Kommt trotzdem das geplante Gesetz, das den Einsatz von Temporärmitarbeitenden als Ersatz für Streikende ermöglichen soll – und nicht nur die Gewerkschaftsrechte gefährden würde, sondern auch die Sicherheit der Reisenden? Die kommenden Wochen werden es zeigen.

Yves Sancey mit verschiedenen Medien, darunter «The Guardian» und «Le Monde» / Übersetzung: Markus Fischer
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