VPT-Tagung Ost- und Zentralschweiz
Nie mehr Unrecht wie 1914–1918!
Im Zentrum der VPT-Tagung vom 10. November in Dürnten (ZH) stand der Generalstreik vor 100 Jahren. SEV-Vizepräsidentin Barbara Spalinger zeigte auf, dass im Ersten Weltkrieg ein Erwerbsersatz für die Soldaten ebenso fehlte wie Massnahmen für eine gerechte Verteilung der knappen Güter. So gerieten viele Arbeiterfamilien in grosse Not. Zudem hatte die Arbeiterschaft wegen dem Majorzwahlsystem und dem Vollmachtenregime kaum noch ordentliche politische Einflussmöglichkeiten.

Weil Rationierungen lebenswichtiger Güter erst ab März 1917 eingeführt wurden, kam es bereits 1915 zu massiven Preissteigerungen, die zu Protesten führten. Auf städtischen Märkten taten sich Arbeiterfrauen zusammen, um den Bauern klar zu machen, dass sie keine höheren Preise bezahlen konnten. Es gab auch Streiks für Lohnerhöhungen und gegen die langen Arbeitstage sowie eigentliche Hungerdemonstrationen. Im Juni 1918 lebten von den knapp vier Mio. Schweizer/innen fast 700'000 unter der Armutsgrenze und waren auf Sozialhilfe angewiesen. Vor Suppenküchen und Stellen für Lebensmittelhilfe bildeten sich Schlangen. Die Arbeiter waren zornig, wegen ständigem Aktivdienst ihre Familien nicht mehr ernähren zu können, während Industrielle und Banker gute Kriegsgeschäfte machten und Bauern und Spekulanten von den steigenden Preisen profitierten.
Das im Februar 1918 gegründete Oltener Aktionskomitee bestehend aus Sozialdemokraten und Gewerkschaftern versuchte mit dem Bundesrat Verbesserungen auszuhandeln. Dabei drohte es mehrmals mit einem Generalstreik. Doch jenen vom 12. November rief es aus Protest gegen die militärische Besetzung der Städte aus, die General und Bundesrat wegen der Wirren in Deutschland und Österreich nach Kriegsende für nötig hielten. Zugleich formulierte das Komitee neun konkrete, relativ moderate Forderungen. Rund ein Viertel aller Angestellten legten die Arbeit nieder, vor allem auch die Eisenbahner, von denen danach viele hart bestraft wurden. Das Land war drei Tage lang gelähmt. 100'000 Soldaten wurden mobilisiert und Bürgerwehren gebildet, aus Angst vor einem bolschewistischen Umsturz wie in Russland. Um einen Bürgerkrieg zu verhindern, rief das Oltener Komitee für den 15. November alle wieder zur Arbeit auf. Dennoch erschossen Soldaten in Grenchen noch drei Arbeiter.

Der Streik war eine «siegreiche Niederlage», wie Streikführer Robert Grimm später schrieb. Denn von den neun Forderungen wurden in den folgenden Jahren viele umgesetzt: Proporzwahlrecht, 48-Stunden-Woche, Sicherung der Lebensmittelversorgung (im Zweiten Weltkrieg), Einführung der AHV (1947), Frauenstimmrecht (auf Bundesebene 1971). Der Generalstreik führte zu einer sozialeren Schweiz, und die Gewerkschaften wurden als Verhandlungspartner ernster genommen.
Nein zum Rückfall in eine Zweiklassengesellschaft
«Gerade heute, wo die Schere zwischen Arm und Reich wieder auseinander geht, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, was 1918 geschah», sagte Barbara Spalinger zum Schluss ihres Vortrags. Und betonte, dass der Streik auch dazu führte, dass sich die zuvor zersplitterten Schweizer Bahngewerkschaften 1919 im SEV zusammenschlossen. «Damals entstand unsere ausgeprägte Basisdemokratie autonomer Sektionen und Unterverbände, auf die ich stolz bin.»







Markus Fischer
Fotos: Fi & Edith Graf-Litscher