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Eisenbahnerinnen und Eisenbahner

Streiks in Frankreich

Facbook/CGT

Stillstehende Züge, geschlossene Metro-Linien, ein Velo- und Trottinett-Chaos, Krippen und Schulen mit Minimal-Betrieb, blockierte Raffinerien… Seit dem 5. Dezember lebt Frankreich im Generalstreik-Modus.

Am Bahnhof Montparnasse, wo Fabien arbeitet, Kundenbetreuer bei SNCF und langjähriger Aktivist der Gewerkschaft CGT, hat der Streik gegen die Rentenreform der Regierung vom ersten Tag an gut geklappt und scheint auf längere Dauer ausgerichtet. «Ich bin seit sechs Tagen ununterbrochen dabei. Wir sind bereit, aufs Ganze zu gehen, wir geben nicht nach», zitiert ihn der «Courrier».

Annabelle Lounis, 43 Jahre, ist Teamleiterin bei SNCF im Val d’Oise. Gemäss der Zeitung «Politis» verdient sie 1700 Euro im Monat (ca. 1860 Franken). «Ich habe ausgerechnet, dass ich nach den geltenden Regeln mit meinem jetzigen Lohn 800 Euro Rente erhalte. Also wenn ich höre, dass wir privilegiert seien – das verstehe ich nicht.» Wenn die Reform eine Berechnung der Rente über die ganze Berufslaufbahn vorsieht, wird ihre Pension noch tiefer ausfallen. «Ich werde viel verlieren», seufzt sie. Die Mobilisierung ist auch hoch bei Spital- und Bildungsberufen, Pöstlern, den «Gelbwesten» und bei den Jungen, die alle die Reform der Regierung auch bekämpfen.

Was ist der Grund für ihre Wut? Die Rentenreform, die die Regierung von Emmanuel Macron ausgebrütet hat, die am 22. Januar 2020 dem Parlament vorgelegt werden soll. Die Reform ist Teil der neoliberalen Offensive der Regierung Macron, die die Schwächsten für die Steuerentlastung der Reichen bezahlen lassen und den Staat in den Dienst der Märkte und des Kapitals stellen will, wie die Zeitung «Politis» betont. Das Ziel: eine forcierte Individualisierung zum Preis des Verlusts der kollektiven Solidarität, etwa mit dem Angriff auf das Statut der Eisenbahnerinnen und Eisenbahner.

Die Reform liegt seit 18 Monaten auf dem Tisch. Sie sieht ein Ende der 42 verschiedenen Rentenkassen und damit der sogenannten Sonderlösungen vor (SNCF, RATP, öffentlicher Dienst usw.), um eine «Einheitsrente» mit einem Punktesystem einzuführen, aber auch eine Erhöhung des Eintrittsalters für eine volle Rente von 62 auf 64 Jahre. Die Gesetzesvorlage sieht einen Wechsel von einem Umlagesystem zu einem Punktesystem vor – mit Kapitalbildung und Berechnung des Guthabens aufgrund der jeweiligen Einlagen jedes Versicherten. Jeder einbezahlte Euro würde als Punkt für die Rente zählen. Statt auf die besten Arbeitsjahre der Versicherten abzustützen, würde die gesamte Arbeitszeit verrechnet. «Eine solche Regelung kann das Rentenniveau von Personen mit gebrochenen Karrieren nur senken, und das sind vor allem Frauen», warnt eine Gruppe von Frauen aus Gewerkschaften und andern Vereinigungen in einem Beitrag in «Le Monde». «Jeder Arbeitsunterbruch, jede Teilzeitarbeit, jeder Mutterschaftsurlaub, jede Arbeitslosigkeit oder Tieflohnphase ergibt keine oder nur wenige Punkte; das gibt Lücken bei der Rente», betonen sie.

Ein anderes Problem bei diesem System: Der Wert eines Punktes kann je nach Lage der öffentlichen Finanzen schwanken. Wenn sich der Wert eines Punktes verändern kann, kann sich also die Höhe der Rente ändern, womit sie nicht mehr garantiert und völlig unberechenbar ist.

Für die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner geht die Mobilisierung aber weit über die Rentenfrage hinaus. Im Demonstrationszug sind die jüngsten Reformen der SNCF unter dem Schlagwort der Modernisierung in aller Munde, insbesondere der «neue Eisenbahnpakt», der den Umbau des Staatsbetriebs in eine Aktiengesellschaft und die Marktöffnung des Schienenverkehrs vorsieht. «Wir waren elf Personen in meinem Team», erzählt die Weichenwärterin Charlotte im «Courrier». «Dieses Jahr wurden die Computersysteme umgestellt und drei Stellen abgebaut mit dem Argument, dass die neuen Instrumente effizienter seien.» Schicht-Betrieb, Arbeit an Sonntagen, Feiertagen und selbst an Weihnachten: Der Rhythmus bleibt hoch, aber die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich. Anfang Juli haben die Gewerkschaften auf die starke Zunahme von Suiziden im Unternehmen aufmerksam gemacht, die auf 50 im Jahr angestiegen sind. Die Zahl ist vergleichbar mit jener bei France Télécom Ende der 2000er-Jahre.

Bei den Forderungen von CGT-Eisenbahn gibt es Punkte, die über die Rentenfrage hinausgehen und den Schweizer Bähnlern bekannt vorkommen dürften: Stopp der Einsparungen, Stopp der Restrukturierungen, Auslagerungen beenden, Verzicht auf Konkurrenz zwischen den Unternehmensbereichen, Stopp der Zerstörung der Berufsbilder, Vorschlag für eine Aufwertung des Schienengüterverkehrs. Für die CGT gibt es eine klare Verbindung zwischen den beruflichen Forderungen und den Renten: Je mehr sich die Politik der Anstellungen und der Löhne verbessert, umso kleiner wird das Rentendefizit.

Die Ankündigungen von Premierminister Edouard Philippe vom 11. Dezember zur Rentenreform haben nicht überzeugt. «Die Regierung verspottet das Volk», erklärte der Generalsekretär der CGT, Philippe Martinez, nach der Rede von Edouard Philippe. «Die Regierung will das Rentensystem individualisieren [...]. Alle werden länger arbeiten müssen, das ist nicht akzeptabel», fuhr er fort. Die CGT-Eisenbahn verlangt «den Rückzug der Reform», die sie als «ungerecht, unangemessen, gefährlich» beurteilt, hat deren Generalsekretär Laurent Brun festgehalten.

So sehr sich der Kampf als langfristig abzeichnet, so stark hängt dessen Erfolg von der Unterstützung durch die öffentliche Meinung ab. Der Anfang ist geglückt: Nach vier Streiktagen ergab eine Umfrage von Harris Interactive, dass 68% der französischen Bevölkerung die Bewegung unterstützten.

Yves Sancey, Übersetzung: Peter Moor

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Kommentare

  • Matthias Krucker

    Matthias Krucker 19/12/2019 17:14:54

    Das neue Rentensystem wird nicht von heute auf morgen eingeführt werden. Die aktiven Mitarbeiter werden nur minim betroffen sein. Mit den Streiks wird die ganze Wirtschaft massiv gestört, einzelne Unternehmen droht deshalb sogar der Konkurs, folglich wird es zu Entlassungen kommen. Ist das das Ziel der Solidarität? SNCF und RATP-Mitarbeiter, die bei einer 35-Stunden-Woche mit 52 in Rente gehen können, jammer wohl auf hohem Niveau. Ist das gerechtfertigt gegenüber Mitarbeitern (Handwerker etc.) der Privatwirtschaft? Von den Privilegien ganz zu schweigen. Alle rufen nach Reformen, aber keine will die Konsequenzen tragen. Ehrlich gesagt, ich habe kein Verständnis für diesen Streik.