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GAV-Serie, Teil 2: Der erste Abschluss

Wie aus einem Aktenschrank ein dünnes Büchlein wurde

Gegen 1000 Mitglieder demonstrieren im Februar 2000 für den Contrat social (aus «lavoro&trasporti vom 24. Februar 2000).

22 Verhandlungsrunden, zwei Unterbrüche und eine Kundgebung in Bellinzona waren nötig, um den ersten GAV SBB unter Dach und Fach zu bringen. Was am 8. September 1999 im grossen Saal der Nationalbank in Bern formell begonnen hatte, wurde am 27. Juni 2000 mit dem feierlichen Akt der Unterschrift auf der grossen Schanze abgeschlossen. Am 1. Januar 2001 trat der GAV in Kraft.

«Die GAV-Konferenz SEV hat den Gesamtarbeitsvertrag SBB an ihrer Sitzung vom 3. April 2000 eingehend beraten. Sie empfiehlt den Stimmberechtigten mit 98:0 Stimmen bei einer Enthaltung, den GAV SBB anzunehmen.» So steht es fett gedruckt in der Beilage zu den Abstimmungsunterlagen, die der SEV allen Mitgliedern, die bei der SBB arbeiteten, für die Gesamtabstimmung zugestellt hatte. Der Appell zeigte Erfolg: Von 21 061 stimmberechtigten Mitgliedern gingen 12 678 Stimmzettel ein; die Stimmbeteiligung lag damit bei 60,2 Prozent. Auf 11 470 der 12 091 gültigen Stimmzetteln stand Ja, auf 621 Nein, was einer Zustimmung von schier unglaublichen 94,9 Prozent entspricht. 

SEV-Präsident Ernst Leuenberger zwischen Vizepräsident Benoît Rohrbasser und SBB-Generaldirektor Benedikt Weibel (Archiv SEV).SEV-Präsident Ernst Leuenberger zwischen Vizepräsident Benoît Rohrbasser und SBB-Generaldirektor Benedikt Weibel (Archiv SEV).

Überwältigende Zustimmung der Mitglieder

Mit der sehr deutlichen Zustimmung stand der feierlichen Unterzeichnung nichts mehr im Weg. Der Festakt vom 27. Juni 2000 setzte den Abschluss unter eine vierjährige Vorgeschichte. Ab 1997 hatte der SEV begonnen, sich auf den GAV vorzubereiten. So mussten intern entsprechende Strukturen geschaffen werden, insbesondere mit der Gründung der GAV-Konferenz, und mit Giorgio Tuti wurde ein externer Gewerkschafter eingestellt, der die nötigen Erfahrungen in Vertragsverhandlungen mitbrachte. Die Geschichte ist hinlänglich bekannt, wie er bei seinem Stellenantritt feststellen musste, dass die bisherigen Regelungen zu den Anstellungs- und Arbeitsbedingungen bei der SBB nicht weniger als einen zweitürigen Aktenschrank füllten (siehe auch Interview in der letzten SEV-Zeitung). Dies alles musste nun in einen möglichst einfachen Vertrag umgesetzt werden, der als schlankes Büchlein daher kommen sollte. 

Ernst Leuenberger zusammen mit seinen Mitarbeitern Roberto Zanetti (inzwischen Ständerat), Giorgio Tuti und Manuel Avallone (Archiv SEV).

Klar war jedoch von Anfang an, dass es ein detaillierter Gesamtarbeitsvertrag werden sollte. Schliesslich umfasste der erste GAV SBB 169 Artikel und 14 Anhänge. Heute wie damals beginnt der GAV mit einem Ingress, einer Art Absichtserklärung, und dessen erster Absatz hat sich über die 20 Jahre unverändert gehalten: «Die Vertragsparteien wollen mit diesem GAV dazu beitragen, dass die SBB erfolgreich ist und ihre soziale und ökologische Verantwortung als integriert geführte Unternehmung wahrnimmt.» 

Zum Schluss eine Kundgebung in Bellinzona

Bevor am 8. September 1999 formell Verhandlungen aufgenommen wurden, hatten sich die Verhandlungsgemeinschaft der Personalorganisationen und die SBB-Delegation zu Workshops getroffen, um die neue Form der Zusammenarbeit aufzugleisen. Zuvor, in den Zeiten des Beamtengesetzes, der Verordnungen und Arbeitszirkulare waren die beiden Parteien zwar auch zu Verhandlungen zusammengekommen. Diese endeten aber nicht mit Vereinbarungen, die beide Seiten unterzeichneten, sondern in Weisungen, die die SBB einseitig erliess. So ging es im wichtigsten Workshop darum, die unterschiedlichen Themen, die der GAV regeln sollte, nach ihrem Gewicht und der Komplexität einzuordnen. Was sowohl wichtig als auch komplex war, würde bei den Verhandlungen am meisten zu diskutieren geben. Wenig überraschend stellte sich die Ablösung des Contrat social von 1993 als schwierigstes Element heraus. Die Garantie, dass aus wirtschaftlichen Gründen keine Entlassungen erfolgen dürfen, war für den SEV nicht verhandelbar – und so ist es bis heute geblieben. Gegen Schluss der Verhandlungen bot der SEV deshalb seine Mitglieder zu einer Kundgebung nach Bellinzona auf, wo nochmals klar und deutlich tausendfach bestätigt wurde: «Ohne Arbeitsplatzgarantie kein GAV!» Es war der nötige Druck, der zum Erfolg führte.

20 Jahre Gesamtarbeitsvertrag SBB– eine Serie der SEV-Zeitung

Die Kernpunkte des ersten GAV

Im Beiblatt zur Gesamtabstimmung über den Gesamtarbeitsvertrag streicht der SEV folgende Punkte als Erfolg heraus:

  • Der Contrat social
  • Der Niveauübergang vom alten zum neuen Lohnsystem 
  • Die 39-Stunden-Woche 
  • Die bisherigen Zulagen und Vergütungen bleiben vollumfänglich erhalten. 
  • Die allgemeinen Sozialleistungen (Lohn im Krankheitsfall usw.) sind sehr gut.
  • Die neu zu schaffenden Personalkommissionen

Personalkommissionen: ein neues Feld

Roland Schwager an einer Sitzung des Verbandsvorstands 1999 (Archiv SEV)

Mit zwiespältigen Gefühlen sah der SEV einer Neuerung im GAV entgegen: der Mitwirkung durch Personalkommissionen. Die Schaffung dieses Instruments war vom Bund vorgegeben, und es war offensichtlich, dass sich die SBB davon erhoffte, die grosse Macht des SEV einzudämmen. Doch die Rechnung ging nicht auf. Bei den ersten Wahlen 2001 gelang es dem SEV, die Zentralpräsidenten der Unterverbände prominent zu platzieren. Dementsprechend kamen die wichtigen Pekos auf Stufe Unternehmen und Division allesamt in die Hände der Zentralpräsidenten. Rundum holten die Vertreterinnen und Vertreter des SEV auch die Mehrheiten der Personalkommissionen auf der untersten Ebene. 

Roland Schwager, heutiger Zentralpräsident des Unterverbands der Pensionierten, war damals im Zentralvorstand des Unterverbands VPV (Verwaltungspersonal) und Delegierter im Verbandsvorstand. Er erinnert sich: «Die SBB musste feststellen, dass sie den Keil nicht zwischen die Personalkommissionen und die Gewerkschaften treiben konnten.»

Inzwischen hat sich einiges verändert: Mit dem aktuellen GAV wurde der Aufbau der Peko neu geregelt, wobei es auch diesmal wieder ein Seilziehen um Unabhängigkeit und Einfluss war. Das Zusammenspiel bleibt ein Abwägen, zumal die Personalkommissionen deutlich näher beim Unternehmen stehen als die Gewerkschaften.