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Landesmantelvertrag

Bauarbeiter:innen protestieren in der ganzen Schweiz

Maximale Flexibilität, Arbeitstage von 12 Stunden und eine Wochenarbeitszeit von 58 Stunden, Arbeit auf Abruf je nach Bedarf der Arbeitgeber:innen und damit keine Möglichkeit, das Privatleben zu planen, ganz abgesehen von den Konsequenzen, die das auf die Arbeitssicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer:innen hat. Das alles fordert der Schweizerische Baumeisterverband (SBV) und weigert sich, bei den Verhandlungen zur Erneuerung des Landesmantelvertrags Bauhauptgewerbe (LMV) Kompromisse einzugehen. Die Bauarbeiter:innen machen da nicht mit und gehen auf die Strasse, um ihren Landesmantelvertrag, der Ende Jahr ausläuft, zu verteidigen.

© Unia

Am 17. Oktober hat eine Protestwelle den Bausektor im Tessin überrollt. Mehr als 20 000 Maurer:innen der ganzen Schweiz haben sich für Streikaktionen während den verschiedenen Verhandlungsrunden ausgesprochen.

Am 1. November wurde in Basel protestiert. Am 7. und 8. November werden die Proteste einen grossen Teil der Westschweiz erreichen, am 11. November Zürich, wo viele Bauarbeiter:innen der Deutschschweiz, inklusive Wallis, teilnehmen werden. Am 14. November ist die letzte Verhandlungsrunde geplant.

Warum protestieren?

Die nationalen Verhandlungen stecken fest. Auf der einen Seite sind die Bauarbeiter:innen mit ihren Gewerkschaften, sie verlangen Lösungen für die wirklichen Probleme, mit denen sie täglich konfrontiert sind: zu lange Arbeitstage, widrige Wetterbedingungen, Fahrzeiten, die nicht voll gezählt werden, unangemessene Löhne und ein schwacher Schutz der älteren Arbeiter:innen. Auf der anderen Seite ist der Schweizerische Baumeisterverband (SBV), der auf die Forderungen des Personals mit Vorschlägen reagiert, die in die Gegenrichtung gehen: totale Flexibilisierung der Arbeitszeiten, was Arbeitstage von 12 Stunden und eine Wochenarbeitszeit von 58 Stunden erlauben würde.

In einem Umfeld von harter Konkurrenz und extremem Druck, wie man es heute auf den Baustellen kennt, würde eine solche Flexibilisierung der Arbeitszeit zu Arbeit auf Abruf führen. Bei schönem Wetter würden die Menschen wie Zitronen ausgepresst, müssten bis 58 Stunden in der Woche arbeiten, um dann bei schlechtem Wetter zu Hause zu bleiben, weil es für die Unternehmen so bequem ist.

Was auf dem Spiel steht

Der Landesmantelvertrag des Bauhauptgewerbes regelt seit 70 Jahren die Arbeitsbeziehungen auf dem Bau und betrifft heute rund 91 000 Bauarbeiter:innen. Dazu kommen mindestens weitere 210 000 Arbeitskräfte, die mit dem Bau indirekt zu tun haben (Handwerker und Lieferantinnen des Bauhauptgewerbes). Aber es ist auch ein Vertrag, der als Referenz für alle Lohnempfänger:innen dieses Landes gilt und der jetzt zu platzen droht. Es steht viel auf dem Spiel, weil ein vertragsloser Zustand im Bauwesen den Weg für den Abbau der Arbeitsrechte in anderen Sektoren ebnet. Ein Schaden, der ein Grossteil der Lohnempfänger:innen der Schweiz spüren würde, gerade in einer Zeit, in der sich die Angriffe auf die Arbeitsrechte häufen.

Erste Mobilisierung

Im Tessin beteiligten sich am 17. Oktober 2500 Bauarbeiter:innen am kantonalen Tag der Mobilisierung gegen den Versuch des SBV, die Arbeitszeiten und die Löhne noch mehr zu flexibilisieren in einem Sektor, in dem die Arbeitsbelastung schon jetzt ein nie dagewesenes Niveau erreicht hat. Die Bauarbeiter:innen, die aus jeder Ecke des Kantons kamen (80 % der Baustellen blieben geschlossen), haben per Akklamation eine Resolution gutgeheissen. Diese gibt den Gewerkschaften Unia und OCST das Mandat, alle Initiativen umzusetzen, die notwendig sind, um den Landesmantelvertrag, der Ende Jahr ausläuft und somit neu verhandelt werden muss, zu verteidigen und zu stärken. «Die Bauarbeiter:innen verlangen nichts Unmögliches. Sie sind gewohnt Opfer zu bringen» bekräftigte Dario Cadenazzi, Verantwortlicher Bau Unia Tessin und Moesa, an der Versammlung. Und er präsentierte die Hauptforderungen, die am Verhandlungstisch dem Baumeisterverband vorgelegt werden sollen: besserer Schutz der älteren Arbeitnehmer:innen, klare Regeln für extreme Wettersituationen (bei 36 Grad Celsius zu arbeiten ist schlichter Wahnsinn), Fahrzeiten ganz bezahlt von den Arbeitgeber:innen und kürzere Arbeitstage. Paolo Locatelli, kantonaler Vizesekretär und Verantwortlicher Bau der Gewerkschaft OCST, bezeichnete die vom Baumeisterverband empfohlene Lohnkürzung von 800 Franken für ältere Arbeitnehmer:innen als eine wahre Schande, die gegen die Würde aller Arbeitnehmer:innen gehe: «Über 2500 Bauarbeiter:innen sind heute hier zusammengekommen, und wir senden eine klare Mahnung an alle Unternehmen in der Schweiz: Ohne Arbeiter:innen wird nichts gebaut!»

Die Demonstrant:innen zogen danach durch die Strassen von Bellinzona und richteten einen Brief an die Mitglieder des Grossen Rates, in dem sie mehr Engagement für einen «gesunden und fairen» Arbeitsmarkt fordern.

Bis Redaktionsschluss hat noch keine andere Protestaktion stattgefunden, deshalb berichten wir vorerst nur über die Mobilisierung im Tessin.

Veronica Galster / Übers. D. Hunn
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Kommentare

  • Rolf Schenk

    Rolf Schenk 03/11/2022 15:08:05

    Angesichts der Arroganz und Verachtung gegenüber den Arbeitnehmern durch die Arbeitgeber muss offen mit Streiks gedroht werden. Die Gewerkschaften müssen (nicht nur) im Baugewerbe deutliche und unmissverständliche Zeichen setzen.