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Migrationstagung: Müssen wir immer erreichbar sein?

Rund 40 SEV-Mitglieder mit Migrationshintergrund trafen sich am 15. Oktober zum Thema «Digitale Arbeitsformen und Integration/Chancengleichheit». An der ersten Migrationstagung des SEV seit 2018 diskutierten sie angeregt über die Herausforderungen und Sorgen, die der Berufsalltag mit Apps, Smartphones, Tablets und anderen digitalen Instrumenten mit sich bringt.

Die Migrationstagung bot SEV-Mitgliedern die Gelegenheit, Themen anzusprechen, die sie bewegen.

Die Digitalisierung der Arbeitswelt sei manchmal mehr Fluch als Segen, sagen viele Teilnehmer:innen der Tagung: «Plötzlich musst du in der Freizeit neue Routen auf YouTube lernen, oder Änderungen im Einsatzplan werden dir spätabends auf die Combox gesprochen, und du hast keine Möglichkeit mehr, darauf zu reagieren.» Der Druck wachse durch die Möglichkeit der ständigen Erreichbarkeit.

Ein Buschauffeur erzählt, dass er selbst an Ruhetagen regelmässig über WhatsApp bedrängt werde, unbesetzte Dienste zu übernehmen. Tatsächlich sind im öffentlichen Verkehr Anfragen an Ausgleichtagen (entspricht dem Samstag der Sieben-Tage-Woche) üblich. Allerdings sollte ein Nein auch als Nein akzeptiert werden. Die Position des SEV ist, dass der Ruhetag, der nach Arbeitszeitgesetz dem Sonntag entspricht, dem Buspersonal als arbeitsfreie Zeit garantiert werden muss.

Ebenfalls Sorgen macht einigen Teilnehmenden das Gefühl, sie würden von den Vorgesetzten ständig überwacht, was je nach App technisch möglich ist. Sie wissen oft nicht, was mit den digital überwachten Bewegungsprofilen und ihrer Arbeitsleistung geschieht. Der SEV fordert hier die volle Transparenz über die Verwendung der betrieblich erhobenen Daten.

Arbeiten in der Freizeit

Ein Thema, das ebenfalls viele Mitarbeitende beschäftigt, ist, dass sie gewisse berufliche Aufgaben in der arbeitsfreien Zeit erledigen müssen. Häufig müssen sie zu Hause die Software aktualisieren oder sogar selber für gewisse Geräte aufkommen. Es sind Tücken der Digitalisierung, die alle Mitarbeitenden im Arbeitsalltag beschäftigen, nicht nur Migrant:innen. Besondere Herausforderungen für Migrant:innen entstehen dann, wenn sie Mühe mit der jeweiligen Landessprache haben. Immer öfter finden betriebliche Weiterbildungen im digitalen Selbststudium statt. E-Learning bedeutet oft Abwesenheit von Fachpersonen, die Hilfe beim Lernen bieten könnten. Ausserdem setzt das Bedienen von neuen Apps oder Geräten meist eine gute Beherrschung der Sprache voraus. «Immerhin bietet hier die Digitalisierung auch Chancen», sagt Michele Puleo, der die Anlaufstelle Integration Aargau leitet und an der Migrationstagung ein Input-Referat hält. «Ich kann mich dank Übersetzungs-Apps besser mit Personen verständigen, welche die Landessprache kaum können.»

Gleichzeitig steige der Druck auf Personen ohne Schweizer Pass, sagt Puleo. Seit der Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) vor zwei Jahren droht einer wachsenden Zahl von Menschen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit der Entzug der Aufenthaltsbewilligung oder eine Rückstufung des Status, wenn sie arbeitslos werden oder nicht nachweisen können, genug «integriert» zu sein.

Was als integriert gilt, hänge vom Ermessensspielraum des jeweiligen Kantons ab, führt Puleo aus. In einzelnen Kantonen sei die Toleranz gross. In anderen Kantonen können selbst Personen das Recht auf Einbürgerung verlieren, die in der Schweiz geboren wurden, nur weil sie einmal Sozialhilfe empfangen haben. Um nicht erwerbslos zu werden und plötzlich Sozialhilfe beantragen zu müssen, seien Migrant:innen deshalb besonders gefordert, sich ständig weiterzubilden.

Inhalte für Positionspapiere des SEV

In den Diskussionen an der Migrationstagung war es dem SEV ein besonderes Anliegen, einen Forderungskatalog für zukünftige Verhandlungen und Positionspapiere zu schreiben, sagt Daniela Lehmann, Koordinatorin Verkehrspolitik des SEV. Sie fordert, die Betriebe müssten mehr tun, wenn es um Digitalisierung gehe. Dabei haben die Unternehmen die nötigen Arbeitsgeräte zur Verfügung zu stellen, inklusive Software, Ausbildung und die erforderliche Arbeitszeit. Wer sich weiterbildet, solle ein entsprechendes Zertifikat erhalten. Gerade wenn es um die Diskussion um Integration geht, ist es wichtig, dass die Betroffenen beweisen können, dass sie sich bemüht haben, mit der Entwicklung am Arbeitsplatz Schritt zu halten.

Nachdem die letzte Migrationstagung wegen der Corona-Auflagen abgesagt werden musste, ist Wolfram Siede froh, dass es 2021 endlich wieder geklappt hat. Der SEV-Gewerkschaftssekretär und Organisator der Tagung bewertet die Veranstaltung als Erfolg und möchte den gewonnenen Einblick in den digitalen Alltag der SEV-Mitglieder für die weitere Arbeit nutzen. Besonders glücklich stimmt ihn, dass am Schluss der Veranstaltung mehrere Teilnehmer:innen gesagt haben, sie seien sehr interessiert, in Zukunft in der Migrationskommission des SEV mitzuwirken. So war zumindest die Diskussion über Digitalisierung in diesem Fall ein Segen.

Michael Spahr
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