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Besondere Angebote für besondere Anliegen

Migrantinnen und Migranten im SEV

SEV-Migrationstagung 2014 in Olten.

Rund 7000 Mitglieder des SEV sind Zugewanderte oder deren Nachkommen. Zwei Drittel von ihnen haben keinen Schweizer Pass, rund die Hälfte hat als Muttersprache weder Deutsch noch Französisch oder Italienisch. Viele von ihnen arbeiten in Tieflohnbereichen; sie sind deshalb ganz besonders auf die Unterstützung durch die Gewerkschaft angewiesen.

Die Schweiz ist ein Einwanderungsland; ziemlich genau 40 Prozent der Bevölkerung haben einen so genannten Migrationshintergrund. Das heisst, sie sind selbst in die Schweiz eingewandert oder leben hier in zweiter oder dritter Generation mit ausländischer Herkunft. Rund ein Drittel dieser Menschen ist eingebürgert.

Entsprechend stammt auch ein beträchtlicher Teil der Gewerkschaftsmitglieder aus dieser Bevölkerungsgruppe. Im öffentlichen Verkehr sind allerdings erst vergleichsweise spät Ausländer/innen angestellt worden; für viele Beamtenkategorien war das Schweizer Bürgerrecht Voraussetzung. Heute finden sich Zugewanderte praktisch in allen Berufsgruppen und damit auch in allen Unterverbänden des SEV (siehe Grafik); überdurchschnittlich viele sind es im VPT, insbesondere wegen den französischen Buschauffeuren in der Westschweiz.

Migrant/innen im SEV: Zugehörigkeit zu den Unterverbänden.

Die SBB weist für ihr Personal 103 Herkunftsländer aus, im SEV sind es sogar 105. Die grösste Gruppe stammt aus Italien, gefolgt von Frankreich und Deutschland. Im SEV sind jedoch auch Mitglieder mit chinesischer, chilenischer oder ivorischer Staatsangehörigkeit.

Migrant/innen im SEV: Herkunft.

Sie alle haben besondere Bedürfnisse (siehe Box und Artikel "16 Jahre Angst um die Stelle"). Zwar müssen sie am Arbeitsplatz in der Regel eine der Landessprachen benützen, dennoch sind viele nur schwer in Deutsch, Französisch oder Italienisch anzusprechen. Das macht die Aufgabe der Gewerkschaft entsprechend schwierig. Gerade die Mitglieder, die sich sprachlich schlecht ausdrücken können, wären besonders auf Unterstützung angewiesen, haben aber kaum Kontakt zu den Vertrauensleuten der Sektionen oder den Gewerkschaftssekretär/innen. Ein Vertrauensleutenetz aufzubauen, das die Kolleg/innen in ihrer eigenen Sprache ansprechen kann, gehört deshalb zu den vordringlichen Aufgaben des SEV.

Digitalisierung am Arbeitsplatz

Ein wichtiger Pfeiler im SEV ist auch die Migrationstagung, die in erster Linie zugewanderte SEV-Mitglieder ansprechen will. Die diesjährige Tagung widmet sich den Auswirkungen der Digitalisierung auf den öffentlichen Verkehr. Inmitten der «vierten industriellen Revolution» verändert sich die Arbeitswelt rasant, verschärft noch durch den Digitalisierungsschub der Pandemie. Doch wohin geht die Reise? Können die Gewerkschaften die Einführung digitaler Arbeitsformen im Interesse der Beschäftigten nutzen? Wie verändern Smartphone, Tablet und Co. den Arbeitsalltag, und wie wirkt sich die ständige Erreichbarkeit auf die arbeitsfreie Zeit aus? Und was, wenn sich jemand den ständig wachsenden Anforderungen nicht mehr gewachsen fühlt?

Peter Moor
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SEV-Migrationstagung 2021

Die diesjährige Migrationstagung des SEV findet am Freitag, 15. Oktober, von 9 bis 16 Uhr im Hotel Olten in Olten statt. Programm:

  • Referat von Daniela Lehmann, Koordinatorin Verkehrspolitik im SEV: Mobilität 4.0: Einblick in die Digitalisierung im öffentlichen Verkehr;
  • Gruppenarbeit: Die vierte industrielle Revolution – wohin geht die Reise?
  • Referat von Michele Puleo, Geschäftsführer der Anlaufstelle Integration Aargau (AIA): Erfahrungen aus der täglichen Arbeit in der Beratungsstelle;
  • Gruppenarbeit: Digitalisierung als Herausforderung – wie und wo bekomme ich Unterstützung?

Eingeladen sind alle SEV-Mitglieder unabhängig von ihrer Nationalität. Die Teilnahme ist kostenlos; Mittagessen und Getränke sind offeriert.

Die Teilnahme an der Migrationstagung erfordet ein Covid-Zertifikat. Der SEV übernimmt die Testkosten für Teilnehmende, die kein Zertifikat haben.

Mehr Infos/Anmeldung unter sev-online.ch/migrationstagung

Leben in dauernder Ungewissheit

Wolfram Siede.

Die Migrationskommission kümmert sich im SEV um die spezifischen Anliegen zugewanderter Kolleginnen und Kollegen. Sie wird in einem kleinen Teilpensum von Gewerkschaftssekretär Wolfram Siede betreut. Der 57-jährige Deutsche kennt das Thema aus eigenem Erleben.

Wolfram Siede, was ist für dich ein Migrant, eine Migrantin?

Zuerst ist es eine Frage der Staatsangehörigkeit. Menschen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit gehören sicher zu dieser Gruppe. Aber es gehören auch jene dazu, die in der Zwischenzeit eingebürgert wurden. Die Mitgliederstatistik des SEV ist da ein bisschen unscharf, sie gibt keine Auskunft über die Zugehörigkeit in zweiter, dritter Generation.

Die Statistik besagt, dass rund 4800 Mitglieder des SEV keinen Schweizer Pass haben; haben diese besondere Bedürfnisse?

Ja, unbedingt. Es gibt im öffentlichen Verkehr Berufsgruppen, die schlecht bezahlt werden, weil sie über keine oder eine ungenügende Ausbildung verfügen. Oft sind diese Kolleginnen und Kollegen temporär beschäftigt, und am Ende ihres Berufslebens geraten überdurchschnittlich viele von ihnen in Altersarmut. Die Einschränkungen der gesetzlichen Altersvorsorge sowie die sinkenden Leistungen der Pensionskassen treffen sie besonders hart. Und dann müssen sie ihre Ansprüche aus dem Ausland erst noch in einem komplizierten Verfahren nachweisen.

Gut 1000 Mitglieder des SEV sind Grenzgänger. Wie ist deren Situation?

Die Kolleginnen und Kollegen mit Wohnsitz im Ausland, die aber in der Schweiz arbeiten, sind für uns sehr schwer zu erreichen. Grenzgänger haben teilweise andere Interessen als Schweizer Staatsangehörige. Sie sind eher bereit, in langen Blockzeiten zu arbeiten, um dann ihre arbeitsfreie Zeit möglichst zusammenhängend bei ihrer Familie im Ausland zu verbringen. Das wird von einigen Unternehmen missbraucht. Die Gewerkschaften stehen hier vor der Herausforderung, den Grundsatz der gleichen Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten umzusetzen.

Du hast es angesprochen, zusätzlich gibt es die Gruppe der Eingebürgerten, die überhaupt nicht erfasst sind, ich schätze sie auf rund 2000 Mitglieder. Wie kommst du an diese heran?

Wir haben den Zugang über die Migrationstagungen, die der SEV jedes Jahr veranstaltet, die wir breit ausschreiben. Wir behandeln dort spezielle Fragen der migrierten Menschen. Dieses Jahr geht es um die Frage der Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt und wie sich unsere Mitglieder dem gewachsen fühlen.

Kannst du das noch ein bisschen vertiefen? Welches sind spezifische Anliegen von Migrantinnen und Migranten bei der Digitalisierung, die ja alle Berufe im öffentlichen Verkehr stark tangiert?

Es gibt spezielle Fragestellungen für Kolleginnen und Kollegen, deren erste Sprache keine der drei Landessprachen ist, etwa, wenn Formulare ausgefüllt werden müssen. Die Digitalisierung führt zu grossen Veränderungen in den Berufsbildern. Das ist das Thema, das wir an der Migrationstagung vertieft diskutieren möchten. Was brauchen diese Personen ganz konkret, wie gehen sie individuell mit den Veränderungen um? Die Spannbreite ist riesengross.

Es braucht also beispielsweise plötzlich schriftliche Sprachkenntnisse, wo vorher mündliche Fähigkeiten gereicht haben?

So ist es. Aber es gibt auch die Digitalisierung bei der Überwachung des Güterverkehrs durch Kameras, Sensoren und anderes, und das führt zu ganz anderen Anforderungen an die Mitarbeitenden, etwa bei der technischen Zugkontrolle. Die körperlich anstrengende Arbeit wird weniger. Aber die Kolleginnen und Kollegen müssen Daten vor Ort auswerten und Fehlermeldungen eingeben. Das verändert das ganze Berufsbild.

Gibt es ein zentrales Anliegen an die Gewerkschaft, das Migrantinnen und Migranten haben, Leute mit Schweizer Herkunft aber nicht?

Die Frage des Aufenthaltsstatus ist ganz wesentlich. Zurzeit ist eine Verschärfung des Ausländer- und Integrationsgesetzes im Parlament: Die rechtsbürgerliche Mehrheit versucht quasi, eine unbefristete Bewilligung an den Nichtbezug von Sozialhilfe zu knüpfen. Das betrifft auch Kolleginnen und Kollegen, die zum Teil seit 20 Jahren in der Schweiz arbeiten, denen nun droht, ihr Aufenthaltsrecht hier zu verlieren oder zumindest zurückgestuft zu werden.

Italien, Frankreich und Deutschland sind die häufigsten Herkunftsländer. Zeigt sich das bei der Arbeit der Migrationskommission im SEV?

In der Migrationskommission sind Kollegen aus allen drei Sprachregionen vertreten. In meiner Arbeit treffe ich zudem auf Sprachgruppen aus Osteuropa oder der Türkei. Ich kenne aus Werbeeinsätzen am Bahnhof Basel ganze Arbeitsbereiche, wo sich die Kollegen mehrheitlich in ihrer Herkunftssprache unterhalten. Für diese Kolleginnen und Kollegen muss die Gewerkschaft ganz nahe an ihren eigenen Anliegen ansetzen. Das sind oft sehr berufspraktische Fragen, etwa zu den Hilfsmitteln bei der Zugsreinigung.

Neben den Jungen und den Frauen sind Migrantinnen, Migranten die einzige Gruppe, die im SEV eine Sonderstellung hat. Weshalb eigentlich?

Um die Jahrtausendwende haben die Gewerkschaften in der Schweiz begonnen, bestimmte Interessengruppen besonders zu fördern, also etwa die Themen der Frauen sichtbar zu machen, in der Gewerkschaft, aber auch im Arbeitsleben, um Diskriminierung zu unterbinden; dies eben auch bei den Migrantinnen und Migranten. Der SEV hat in den 90er-Jahren mit einer Arbeitsgruppe begonnen und dann eine Kommission mit gewählten Mitgliedern geschaffen. Solche Vertretungen gibt es bei allen SGB-Gewerkschaften, soweit ich informiert bin.

Du stammst selbst aus Deutschland; wie erlebst du die Schweiz als Migrant?

Ich vertrete den SEV in der Migrationskommission des SGB. Ich habe mich dort als Migrant vorgestellt. Das war ein bisschen paradox, weil ich mich in der Schweiz selbst als Migrant erlebe. Auch ich habe in der Schweiz einen Status zweiter Klasse, vor allem bei den Volksinitiativen und den Abstimmungen: Die politischen Rechte sind mir vorenthalten, ich kann weder in Deutschland noch in der Schweiz wählen.

Gerade schauen wir hilflos auf die dramatische Lage in Afghanistan. Es gibt aber auch dramatische Fälle in der Schweiz. Hier leben anerkannte Flüchtlinge lange Jahre in Unsicherheit. Ein zeitgemässes Ausländerrecht müsste den Aufenthalt und die Einbürgerung innert vernünftiger Frist ermöglichen und zwar ohne die unzähligen Vorbehalte.

Was sind deine Pläne als Migrationsverantwortlicher im SEV für die nähere Zukunft?

Wir versuchen in der Kommission, junge Kolleginnen und Kollegen anzusprechen, damit wir ein Kontaktnetz aufbauen können, insbesondere im Unterverband VPT, also bei Bus- und Bahnbetrieben, wo wir die meisten Mitglieder, aber den schlechtesten Zugang haben. Ein Vertrauensleutenetz der Migrationskommission aufzubauen ist sicherlich das vordringlichste Ziel. Dazu ist es wichtig, dass wir die Mitglieder besser erreichen können, etwa über einen Newsletter.

Fragen: Peter Moor
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