Guy Greivelding, Vorsitzender der Bahnsektion der Europäischen Transportarbeiter-Föderation ETF

«Europa muss ein Europa der Bürger sein»

Guy Greivelding ist einer der erfahrensten Verkehrsgewerkschafter Europas. Noch bis 2017 führt er die Bahnsektion der ETF, bis letzten Januar war er Vorsitzender der luxemburgischen Bahngewerkschaft. Sein besonderes Anliegen ist der Soziale Dialog, um die Anstellungsbedingungen der Eisenbahnerinnen und Eisenbahner zu verbessern.

Guy Greivelding führt seine Tätigkeit auf europäischer Ebene fort, nachdem er als Vorsitzender der luxemburgischen Bahngewerkschaft pensioniert worden ist.

kontakt.sev: Die Idee Europa war ursprünglich ein Friedensprojekt. Ist davon heute noch etwas zu spüren?

Guy Greivelding: Jeder war begeistert, als Europa auf den Weg gebracht wurde. Aber heute muss man feststellen, dass Europa praktisch nur noch aus Wirtschaftsthemen besteht und dass alles andere, dass eigentlich der Mensch in Europa vergessen worden ist. Als Gewerkschafter wollen wir ein soziales Europa haben, aber wir bleiben mit unseren Forderungen auf der Strecke.

Gibt es Europa überhaupt noch?

Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Wenn man sieht, wie sich die einzelnen Staaten innerhalb Europa bewegen, muss man feststellen, dass die Einheit, die damals gedacht war, in den langen Jahren verloren gegangen ist.

Hast du Hoffnung, dass sich das wieder bessert?

Ja, ich hoffe, dass sowohl die einzelnen Staaten als auch die Politikerinnen und Politiker, die nach Europa gewählt werden, zur Einsicht kommen, dass Europa ein Europa der Bürger sein muss und nicht ausschliesslich ein Europa der Wirtschaft, des Geldes sein kann.

Du hast als Gewerkschafter den Sozialen Dialog miterlebt, der ja eigentlich eine der grossen Errungenschaften der Union ist. Wo stehen wir heute?

Der Soziale Dialog läuft nicht, wie wir das möchten. Das hat mit unsern Sozialpartnern zu tun, aber ich habe auch das Gefühl, dass vor allem die europäischen Institutionen, die für den Sozialen Dialog zuständig sind, diesem nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken. Der EU-Kommissionspräsident, Jean-Claude Juncker, hat gesagt, dass er den Sozialen Dialog fördern will; es gab auch eine Konferenz in dieser Richtung. Wir haben Versprechen kommen, dass vor allem im Bereich Eisenbahnverkehr eine Verbesserung eintreten soll, aber ich bin immer noch skeptisch, dass solche Worte leere Hülsen sind, um die Arbeitnehmer zu beruhigen.

An sich wäre das ja Sozialpartnerschaft auf dem einfachsten Weg. Ist beidseits der Wille vorhanden, das voranzutreiben?

Ich gehe davon aus! Wir haben uns vor kurzem mit Spitzenpersonen mehreren Bahnen verständigt, dass wir beidseitig einen besseren Dialog wollen. Der Plan steht bereit, wie wir den Sozialen Dialog verbessern können. Ich hoffe, dass auch unsere Sozialpartner dazu stehen und wir in den nächsten Monaten dazu kommen, dass der Soziale Dialog seinen Namen verdient und zu Resultaten führt. Man kann viel zusammen reden, aber wichtig ist, dass konkrete Resultate herausschauen.

Du präsidierst die Bahnsektion der Europäischen Transportarbeiter-Föderation ETF; gibt es europäisch eine gemeinsame Vorstellung der Bahn aus gewerkschaftlicher Sicht?

Ja, natürlich: dass die Bahn ein öffentlicher Dienstleister ist, der die Verkehre durchführen soll, einerseits im Interesse der Menschen, andererseits aber auch im Interesse der Wirtschaft. Die Vorstellung ist zudem, dass über den Bahnverkehr auch Umweltpolitik betrieben wird im Sinn, dass Güter von der Strasse auf die Schiene geholt werden und dass die Menschen vom Individualverkehr auf den öffentlichen Verkehr umsteigen. Das ist die Vorstellung der ETF, wie es weitergehen soll in Sachen Verkehr.

Die Unterschiede zwischen stark liberalisierten Ländern etwa des Ostens und des Baltikums und stark regulierten Ländern sind riesig. Verhalten sich auch die Gewerkschaften anders?

Die Gewerkschaften der ETF setzen auf die Regulierung. Wir setzen auf den öffentlichen Verkehr: Auch bei jenen, wo die Liberalisierung weiter ist als bei andern, haben wir dafür Verständnis gefunden. Wir sehen heute, dass verschiedene Länder, die weiter liberalisiert sind, das als Fehler erkennen. Ich meine, die europäische Politik wird in einigen Jahren sehen, dass der Weg der Liberalisierung falsch war und dass es zu einer Umkehr kommen muss.

Das spürt man aber zurzeit noch nicht …

Nein, weil die Liberalisierer meinen, sie wären auf dem richtigen Weg. Sie wollen diesen Weg weitergehen. Aber man sieht ja jetzt beim 4. Eisenbahnpaket: bei der Frage, ob beim öffentlichen Verkehr die Direktvergabe oder die Ausschreibung vorzusehen ist, stehen die Gewerkschaften unisono für die Direktvergabe ein, auch jene, die auch Ausschreibungen tolerieren.

Wie steht es um die ETF als Ganzes?

Mir ist die Solidarität wichtig, die wir innerhalb der Gewerkschaften aufgebaut haben, die in der ETF organisiert sind. Das gilt nicht nur im Sektor Eisenbahn, sondern in allen Sektoren. Wenn diese Solidarität auch in Zukunft spielt, können wir unsere Interessen gegenüber den europäischen Institutionen besser verteidigen. Das betrifft die Lobby-Arbeit, aber wenn es nötig ist, müssen wir die Stärke in gewerkschaftlichen Aktionen und auf der Strasse zeigen können.

Du bist dieses Jahr als Präsident des Landesverbands in Luxemburg zurückgetreten, nachdem du dort viele Jahre gewirkt hast. Was waren deine Schwerpunkte?

Seit den 70er Jahren bin ich aktiver Gewerkschafter, seit den 80er Jahren habe ich in verschiedenen Funktionen Verantwortung getragen. Eines meiner Ziele war, die Eisenbahn so zu stärken, dass sie im europäischen Verkehrsmarkt konkurrenzfähig bleibt und eine Zukunft hat. Es war mein Anliegen, dass die Bahn ein guter Dienstanbieter mit Qualität ist, weil so auch die Arbeitsplätze mit guter Qualität abgesichert werden. Wichtig ist auch, dass genügend Personal eingestellt und gut geschult werden muss, um gute Dienstleistungen zu erbringen.

Wie beurteilst du heute die Arbeitsbedingungen bei der Bahn in Luxemburg?

Ich habe die Bahn erlebt, als es noch eine staatliche Verwaltung war und ich habe sie jetzt in den letzten Jahren erlebt, seit sie ein kommerzieller Betrieb ist. Im Rahmen der Bahnreform von 2007 konnten wir eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen durchsetzen. Das sind allerdings Arbeitsbedingungen auf dem Papier. Das ist schön und gut, aber Arbeitsbedingungen müssen auch eingehalten werden, und das ist der tagtägliche Job der Gewerkschaften, dafür zu sorgen, dass dies im Betrieb auch umgesetzt wird.

Luxemburg und die Schweiz sind die reichen Länder in Europa. Was können wir Schweizer von Luxemburg lernen?

Das höre ich immer: Luxemburg und die Schweiz wären die reichen Länder. Es werden immer die Löhne miteinander verglichen, aber man muss auch schauen, wie hoch die Ausgaben sind, wie teuer die Immobilien sind, sowohl in Luxemburg als auch in der Schweiz. Vergleiche gehen immer schief. Was wir voneinander lernen können? Wir sollten uns beide dafür einsetzen, dass der öffentliche Transport auf der Schiene sowohl beim Personen- als auch beim Güterverkehr zunimmt und die Zukunft des Verkehrswesens ist, auch als wesentlicher Teil der Nachhaltigkeit.

Luxemburg und die Schweiz haben noch eine andere Gemeinsamkeit: Wir sind beides mehrsprachige Länder und sprechen zudem einen Dialekt, den ausser uns niemand versteht. Hast du das als schwierig empfunden?

Nein. Wir als Luxemburger und ihr als Schweizer sprechen mehrere Sprachen, und das macht uns die Welt offener. Wir können uns mit den Nachbarn unterhalten; das ist ein Vorteil, um sich über Grenzen hinweg zu verständigen.

Interview: Peter Moor

Bio

Guy Greivelding wurde 1953 geboren. 1971 begann er nach dem Mittelschulabschluss eine Laufbahn bei der Bahn. Er durchlief die Ausbildung im Bahnhof Bettemburg und übte danach mehrere Funktionen auf verschiedenen Bahnhöfen aus, bevor er in die Buchhaltungszentrale wechselte, schliesslich arbeitete er im Bahnhof Luxemburg.

Mitte der 80er Jahre wurde er für die Gewerkschaft freigestellt. Er wurde danach Generalsekretär und schliesslich 2009 bis 2015 Vorsitzender. Bis zur Pensionierung im August war er zudem politischer Sekretär des gemischten Betriebsrats, der auf einem Gesetz von 1974 basiert, das die Mitbestimmung in Luxemburg regelt. Der politische Sekretär ist das Pendant zum Generaldirektor, der Vorsitzender des Gremiums ist.

Das Mandat als Vorsitzender der Eisenbahnsektion der ETF läuft 2017 aus, wobei er sich noch um wichtige Themen kümmern will: 4. Eisenbahnpaket, Liberalisierung, Sicherheit auf den Schienen Europas. In Luxemburg ist er noch im Vorstand der Arbeitskammer, wo er die Interessen der Eisenbahnerinnen und Eisenbahner vertritt und schliesslich ist er Vorsitzender der Genossenschaft, die sich um das Gemeinschaftsvermögen der Gewerkschaft kümmert.

Er ist verheiratet, ohne Kinder. «Meine Frau hat mich immer unterstützt und war immer stolz, wenn wir Erfolge erreichen konnten.»

pmo