Françoise Gehring, Gewerkschaftssekretärin beim SEV-Regionalsekretariat Bellinzona
Schluss mit der Gleichstellung nur auf dem Papier!
Zwanzig Jahre nach dem Frauenstreik vom 14. Juni 1991 demonstrieren Frauen am kommenden 14. Juni, um daran zu erinnern, dass die Gleichstellung in unserem Land noch nicht erreicht ist. Françoise Gehring war schon 1991 dabei und wird es auch am nächsten Dienstag sein.
kontakt.sev: Wo warst du am 14. Juni 1991?
Françoise Gehring: Ich war damals schon im Kampf für die Gleichstellung und in der Gewerkschaftsbewegung engagiert. Natürlich habe ich am Frauenstreik teilgenommen. Ich erinnere mich, dass wir im Tessin an diesem historischen Streiktag sehr zahlreich auf die Strasse gingen. Auch die Schüchternsten ergriffen öffentlich das Wort. Rund um den Slogan «Wenn Frau will, steht alles still!» gab es viel Anteilnahme und Gefühle. Manche Journalisten schrieben aber auch von «hysterischen Frauen» und «Männerhasserinnen »!
Und wo wirst du am kommenden 14. Juni sein?
Am Morgen werde ich mit meinen Kollegen/-innen vom Tessiner Regionalsekretariat auf den Bahnhöfen von Lugano und Bellinzona sein. Im Gespräch mit Pendler/innen und öV-Angestellten wollen wir darauf aufmerksam machen, dass die Gleichstellung in der Arbeitswelt, auch im öffentlichen Verkehr, noch nicht gesichert ist. Am Nachmittag werden wir in Lugano sein. Wir nehmen an der grossen Demonstration aller Gewerkschaften und einiger Tessiner Frauenorganisationen teil. Wir werden einen Stewi aufstellen, an dem wir die «schmutzige Wäsche der Diskriminierung » aufhängen werden. Jede Demonstrantin kann mit ihrer Wäsche anrücken.
Was ist die Botschaft dieses grossen kollektiven Wäschewaschens?
Bio
Françoise Gehring kam 1960 in Mendrisio zur Welt. Sie studierte an der Universität Genf, wo sie die Entstehung der ersten Frauenbuchhandlung, «L’inédite», miterlebte. Seit drei Jahrzehnten arbeitet sie als Journalistin für verschiedene Tessiner, Westschweizer und Deutschschweizer Medien. Seit Dezember 2009 ist sie beim SEV mit einem 70 %- Pensum als Gewerkschaftssekretärin tätig. Daneben widmet sie sich dem Kampf für die Gleichstellung (sie präsidiert die SGB-Frauengruppe Tessin und Moesa), ist weiterhin journalistisch tätig und frönt ihrer Leidenschaft: der Literatur.
Wir haben heute Stimmrecht, Verfassungsartikel und Gleichstellungsgesetz. Aber haben wir Gleichstellung? Verdienen wir gleich viel für gleiche Arbeit? Wer putzt und wäscht? Wer sorgt für Kinder und Pflegebedürftige? Wer kommt beruflich voran? Es gibt noch viel zu verändern! Wie es der Slogan dieses Tages so schön sagt: Schluss mit der Gleichstellung nur auf dem Papier!
Hat es zwischen dem 14. Juni 1991 und dem 14. Juni 2011 keine Fortschritte gegeben?
Um ehrlich zu sein: nicht viele. Ich finde, dass wir in der Schweiz in der Gleichstellungsfrage eher Rückschritte gemacht haben, insbesondere in den letzten zehn Jahren.
Aber heute haben wir vier Bundesrätinnen …
Vier Schwalben machen noch keinen Frühling. Die Statistik sagt, dass in unserem Land die Frauen im Schnitt 20 Prozent weniger verdienen als die Männer. Das ist nicht nichts! Auch sind es immer noch die Frauen, die fast die ganze Haus- und unbezahlte Arbeit erledigen. Familie und Beruf sind schwer unter einen Hut zu bringen. Aber ich anerkenne, dass sich in diesen zwanzig Jahren viele Männer mit der Frage befasst haben und in der Mehrzahl bereit sind, einen Teil der Hausarbeit zu übernehmen und den Beschäftigungsgrad zu reduzieren, um sich um die Erziehung ihrer eigenen Kinder zu kümmern.
Kannst du ein Beispiel geben, um deine Einschätzung zu illustrieren, dass wir Rückschritte gemacht haben?
Es gibt indirekte, versteckte Formen von Diskriminierung, die zugenommen haben. Denken wir beispielsweise an das oft herabwürdigende Bild der Frau in der Werbung. Ich bin nicht Moralistin, aber hier sehen wir vieles, das wir nicht akzeptieren sollten. Kürzlich traf ich die grosse algerische Schriftstellerin Assia Djebar, die mich nachdenklich machte mit der Aussage: «Mit welchem Recht behaupten westliche Frauen, emanzipierter zu sein als jene, die einen Schleier tragen, wenn sie gleichzeitig akzeptieren, für eine Handyreklame halbnackt zu posieren, für die Karriere alles tun und sich dem Modediktat beugen? Sie sind in Wirklichkeit gefangen in einem goldenen Käfig.»
Seit eineinhalb Jahren arbeitest du im Tessiner Regionalsekretariat. Wie bist du in der immer noch sehr männlichen Welt des öV aufgenommen worden?
Ich kann nicht sagen, nicht akzeptiert worden zu sein. Ich bin mir aber bewusst, dass ich mit meiner Person und meinem Engagement für die Sache der Frauen etwas exotisch bin. Sowohl im öffentlichen Verkehr wie in unserer Gewerkschaft ist es noch ein weiter Weg, bis wir die Gleichstellung erreicht haben.
Auf der einen Seite gibt es immer noch Männerüberheblichkeit, aber auf der andern Seite kämpfen die Frauen auch zu wenig für ihre Rechte – kann man das so sagen?
Ich denke auch, dass sich die Frauen manchmal selber im Weg stehen. Sie wollen alles perfekt machen, bevor sie wagen, eine Forderung zu stellen. Diese Art Bescheidenheit oder Selbstzensur ist in der Arbeitswelt nicht nützlich. Daneben gibt es auch tatsächlich Hindernisse. Eine Kämpferin ist in unserer Gesellschaft immer noch ungern gesehen. Aber Achtung, stellen wir uns nicht als Opfer dar! Und denken wir dran: Das starke Geschlecht sind die Frauen!
Was erwartest du vom nationalen Aktionstag des 14. Juni?
Es möge ein Festtag für die Frauen werden, der zeigt, dass sie einen Platz an der Sonne wollen! Aber auch ein Tag, der uns alle darüber nachdenken lässt, dass der Kampf für die Gleichstellung auch ein Kampf für die Menschenrechte ist. Tiefe Löhne und Arbeit auf Abruf sind nicht mehr nur das Los von Frauen. Der Sozialabbau fordert auch unter den Männern Opfer. Lasst uns deshalb gemeinsam für eine Welt der Gleichstellung kämpfen!
Alberto Cherubini / pan.