50 Jahre Frauenstimm- und Wahlrecht
Das Frauenstimmrecht zwischen Enttäuschungen und Erfolgen
7. Februar 1971: Schweizer Frauen erhalten endlich das aktive und passive Wahlrecht auf Bundesebene. Susanna Castelletti ist Historikerin, Lehrerin und Expertin für die Geschichte der Frauen und des Frauenwahlrechts. Sie arbeitet eng mit der Associazione Archivi Riuniti Donne Ticino (AARDT) zusammen und ist Autorin zahlreicher Publikationen. Interview.
Die Schweizer Frauen mussten einen langen Weg gehen, bis sie das Stimm- und Wahlrecht erhielten. Was waren Ihrer Meinung nach die wichtigsten Momente?
Der Weg der Schweizer Frauen zur Erlangung ihrer politischen Rechte dauerte fast ein Jahrhundert und war verschlungen und voller Enttäuschungen. Meiner Meinung nach gibt es vier wesentliche Entwicklungsschritte. Erstens wurden zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe frauenrechtlerischer Vereine gegründet, die sich 1909 zum Schweizerischen Verband für Frauenstimmrecht zusammenschlossen, der fortan als Dachverband die verschiedenen Aktionen für das Frauenstimm- und Wahlrecht koordinierte. Zweitens mussten die Frauen in den beiden Weltkriegen die von den einrückenden Männern verlassenen Stellen besetzen, um den Zusammenbruch des Landes zu verhindern. Dies ermöglichte ihnen zweifelsohne, sich ihrer Qualitäten bewusst zu werden, und zeigte, dass auch Frauen in der Lagesind, sich öffentlich in Szene zu setzen. Drittens gab es 1959 die erste eidgenössische Abstimmung über das Frauenstimmrecht. Es wurde zwar von den Schweizer Männern abgelehnt, aber das Thema wurde endlich öffentlich diskutiert. Schliesslich fand 1968 ein eigentliches Schlüsselereignis zur Erreichung der politischen Gleichheit statt: Damals wurde bekannt, dass der Bund beabsichtigte, die Europäische Menschenrechtskonvention nur mit einem Vorbehalt zu den politischen Rechten der Frauen zu unterzeichnen. Dies löste grosse Proteste aus und führte schliesslich 1971 zu der Abstimmung, welche die Frauen endlich zu vollwertigen Bürgerinnen machte.
Wie wichtig war der Fall der ersten Juristin in der Schweiz, Emilie Kempin-Spyri (1853–1901), die im Kanton Zürich nicht als Anwältin praktizieren durfte, weil sie als Frau kein aktives und passives Wahlrecht hatte?
Frauen wie Emilie Kempin-Spyri wagten es in Zeiten, die vom Patriarchat dominiert waren, ihre Stimme zu erheben und ihre Rechte einzufordern. Dem Mut und der Beharrlichkeit dieser herausragenden Persönlichkeiten, aber auch all der Frauen, die sich in den Suffragettenverbänden organisierten und ihre Energie und Arbeit der Gleichberechtigung widmeten, ist es zu verdanken, dass die Frauen 1971 das aktive und passive Wahlrecht erhielten.
Welche anderen Frauen spielten dabei eine treibende Rolle?
Eine Auswahl ist schwierig: Wenn wir die Situation im Tessin betrachten, möchte ich an Iva Cantoreggi erinnern, die erste Journalistin im Kanton, die dank ihrer Beiträge im Radio zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit beitrug. Es ist jedoch wichtig, den Weg zu den Frauenrechten als etwas Kollektives zu betrachten, bei dem der Zusammenschluss von Frauen mit unterschiedlichen Ideen, Erfahrungen und sozialen Hintergründen zu Vereinen eine grosse Rolle spielte.
Wie haben Gewerkschafterinnen zu diesem Erfolg beigetragen?
Die in den Gewerkschaften aktiven Frauen trugen durch ihre Erfahrungen in der öffentlichen, arbeitspolitischen und politischen Arena dazu bei, dass der Gedanke ins kollektive Bewusstsein rückte, dass es die volle Gleichheit der Bürgerrechte braucht, um auf dem weiten Feld der individuellen Freiheiten und der Rechte der Frauen voranzukommen.
Eine Frage an Sie als Historikerin und Lehrerin: Wie reagieren Ihre Schüler/innen, wenn Sie sie auf das Frauenstimmrecht ansprechen?
Die erste Reaktion ist immer Erstaunen: Es fällt ihnen nicht leicht, sich vorzustellen, wie die Schweiz als demokratische Nation par excellence, eines der grundlegendsten Rechte erst so spät gewähren konnte im Vergleich zu den meisten Ländern der Welt. Es fällt ihnen oft schwer, die Argumente nachzuvollziehen, die von den Gegnern des Frauenstimmrechts während der verschiedenen Kampagnen angeführt wurden. Interessant ist jedoch, wie dieses Thema zu Debatten über ihre Wahrnehmung von Politik und Gleichberechtigung im Allgemeinen führen kann: Das Frauenstimmrecht führt zu Themen wie Frauenquoten, Lohndiskriminierung und Karrierehindernissen. Über die Vergangenheit zu sprechen hilft also, die Gegenwart zu verstehen und zu reflektieren, und das kann ich als Lehrerin nur begrüssen.
Was hat Sie als Expertin für die Geschichte des Frauenwahlrechts und Autorin zahlreicher Publikationen am meisten beeindruckt?
Ich persönlich halte das Thema für fundamental für unsere Geschichte und bin immer wieder erstaunt, wie wenig es selbst auf schulischer und wissenschaftlicher Ebene behandelt wird. Ich bedaure auch, dass die Wege und Biografien der Pionierinnen für politische Gleichberechtigung oft im Schatten bleiben und in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind. Ich denke, dass uns die Beschäftigung mit den tief in der damaligen Gesellschaft verwurzelten Vorurteilen gegen die Frauen ein besseres Verständnis der aktuellen Schweizer Realität und eine vollständigere Sicht darauf bringt.
Françoise Gehring / Übers. Jörg Matter