Rückfall ins Marktchaos des 19. Jahrhunderts
Wenn das Bahnsystem auseinanderfällt
Der schwedische Journalist und Buchautor Mikael Nyberg berichtete am SEV-Kongress über die Folgen der Bahnmarktöffnung und der Trennung von Betrieb und Infrastruktur in seinem Land. Wenn Besteller, Operateure und Unterhaltsfirmen alle nur für sich schauen, leidet die Qualität von Angebot, Rollmaterial, Infrastruktur und Service bis hin zu Sicherheitsproblemen. Und die Bürokratie floriert.
«Das schwedische Bahnexperiment mag für die EU ein Vorbild sein, doch bei uns ist es ein Desaster», erklärte Mikael Nyberg. «Wir sind als erstes Land Europas ins Marktchaos des 19. Jahrhunderts zurückgekehrt.» Nachdem im Bahnwesen zuerst der Markt regiert hatte, sei Ende 19. Jahrhundert klar geworden, dass es viel Koordination und Planung braucht, damit ein Netz richtig funktioniert. Deshalb wurden Monopole geschaffen: In den USA wurden alle Systemkomponenten vertikal in private Bahngesellschaften integriert, in Europa eher verstaatlicht. Die schwedische Staatsbahn SJ, die ab Mitte 19. Jahrhundert Linien betrieb, vergrösserte ihren Anteil am gesamten Bahnverkehr bis 1931 auf 40% und bis 1960 auf 95%. 1988 aber lagerte das schwedische Parlament die Infrastruktur in die Gesellschaft Banverket aus, die 2010 mit der Strassenbaubehörde zu Trafikverket zusammengelegt wurde. Bis heute gehört die Infrastruktur dem Staat, doch ihr Unterhalt wird ausgeschrieben.
Jeder optimiert seine Kosten
2001 wurden die SJ-Divisionen Personenverkehr und Cargo in die selbstständigen Unternehmen SJ AB und Green Cargo AB umgewandelt und der Bahnmarkt komplett geöffnet. Die Bahnhöfe und Terminals wurden in der Gesellschaft Jernhusen AB zusammengefasst, als Teil der staatlichen Holding Swedcarrier AB. In diese wurden 2001 auch die Werkstätten als selbstständige Firmen eingegliedert. Gewisse Fernverbindungen erbringt die SJ AB in eigener Verantwortung, wobei unwirtschaftliche Verbindungen ausgeschrieben werden können. Der Nahverkehr wird von den Provinzen bezahlt und bestellt. Sie vergeben die Linien meist an die günstigsten Anbieter, die dann sparen, wo sie können, um Gewinn zu erzielen: bei Angebot, Personal, Rollmaterial. Die Operateure schreiben Unterhalt und Reinigung der Züge ihrerseits aus…
Die Folge sind dreckige Wagen, geschlossene Toiletten und andere Rollmaterialmängel bis hin zu Lokdefekten und Zugsausfällen. Gespart wird auch anderswo: Von 30 schweren Schneeräumloks, welche die SJ in den 1960er-Jahren gekauft hatte, standen im harten Winter 2011 noch zehn zur Verfügung. So blieben Züge und Passagiere stundenlang stecken.
Mehr Bürokratie
Die schwedischen Politiker begründeten die Bahnreform damit, der Wettbewerb führe zu mehr Effizienz und weniger Bürokratie. Doch die Vielzahl von Operateuren und Ausschreibungen hat ihren Preis. Mikael Nyberg zitierte aus dem Jahresbericht 2009 der Infrastrukturbehörde: «Ein bedeutender und steigender Teil des Gesamtaufwands für Unterhalt und Reinvestitionen sind indirekte Kosten für Operating und Unterhalt, wie etwa für Unterhaltsmanagement, Telekommunikation, Energie und Interaktion mit Operateuren.» Laut Bericht haben sich diese indirekten Kosten von 2002 bis 2009 mehr als verdoppelt, bei einer Verkehrszunahme um acht Prozent – siehe Grafik.«Auf den Gleisen tun immer weniger Arbeiter ihr Bestes, um die Infrastruktur in gutem Zustand zu halten», führte Nyberg aus. «Gleichzeitig braucht es immer mehr Büropersonal, um Verträge zu schreiben, Rechnungen zu kontrollieren und zu versuchen, die vielen Operateure im Griff zu behalten. Die Reform hat uns nicht weniger, sondern mehr Bürokratie gebracht.»
Strukturelles Problem
Verantwortlich für das Desaster sei nicht schlechtes individuelles Handeln, unterstrich Nyberg: «Die Bahnangestellten in Schweden wollen wirklich einen guten Job machen, doch das System verunmöglicht das. Berufskenntnisse werden entwertet, Betrug und Schlamperei nehmen Überhand. Das schadet auch der Bahnsicherheit: Wir haben in den letzten Jahren mehrere Unglücke und schwere Vorfälle gehabt, die mit dem neuen Bahnmodell zu tun haben.»
Mikael Nyberg schloss mit dem Rat, das schwedische Modell nicht zu übernehmen.
Markus Fischer
«Macht unseren öV nicht kaputt!»
Daniela Lehmann, Koordinatorin Verkehrspolitik des SEV, stellte das Positionspapier «Verkehrspolitik Schweiz und Europa!» vor: Obwohl sich das Schweizer öV-System bewährt hat und weltweit als vorbildlich gilt, will das Bundesamt für Verkehr (BAV) dieses umkrempeln mit verstärktem Marktzugang privater Unternehmen und mehr Wettbewerb nach EU-Vorbild. Davon zeugt der vom BAV inszenierte Scheinwettbewerb dreier Staatsbahnen um Fernverkehrslinien. Damit drohen Rosinenpickerei, der Niedergang weniger rentabler Linien und Dumping beim Personal – abgesehen von vielen offenen Fragen zum allfälligen Firmenwechsel von Personal und Rollmaterial. Zudem will das BAV offenbar Fernbuskonkurrenz zu Bahnverbindungen zulassen, die unfair ist, weil die Busse sich auf rentable Linien konzentrieren, kaum etwas an die Infrastruktur bezahlen und schlechtere Arbeits- und Anstellungsbedingungen haben als die Bahn. Hier wird der SEV auf bessere Bedingungen pochen, wie auch weiterhin bei den Bahnen. Zudem kämpft er gegen die weitere Enthumanisierung der Bahn durch Personalabbau und für eine volle Ausschöpfung der LSVA, damit die Bahn im Güterverkehr mit der Strasse mithalten kann. Fi
Europäischer sozialer Dialog
Matthias Rohrmann von der Gemeinschaft Europäischer Bahnen (GEB, englisch CER) will die von ihm präsidierte EU-Institution des Sozialen Dialogs im Sektor Eisenbahn zusammen mit Giorgio Tuti, neuer Prä- sident der Sektion Eisenbahn der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF), stärken, erklärte Rohrmann vor dem Kongress. Der SEV sei ein starker Sozialpartner und Tuti daher gut geeignet für die Stärkung der Sozialpartnerschaft auf europäischer Ebene. Gemeinsam könnten die Sozialpartner die Position der Bahn gegenüber der Strasse verbessern.
Resolutionen zur Verkehrspolitik
Der Kongress stellte sich einstimmig hinter die Resolutionen der Unterverbände LPV und VPT. Erstere fordert vom BAV mehr unangemeldete Kontrollen von Arbeitszeiten, Löhnen und Fachwissen, letztere die Definition der branchenüblichen Arbeitsbedingungen in der Schifffahrt zusammen mit dem SEV.
Fi
Kommentare
Beat Jurt 24/05/2017 09:11:32
Mikael Nyberg hat (oder sollte) jedem damit klar aufgezeigt haben zu was diese Liberalisierungen führen können! Doch sind wir ehrlich zu uns, wir Schweizer Musterschüler werden dies nicht Ernst nehmen. Wir machen es doch immer noch viel besser! Politische, inkl. BAV, wie die Wirtschaftführer, sowie die sich als Unternehmer fühlende Bahn CEO fühlen sich allen Ernstes dazu befähigt etwas funktionierendes zu demontieren! Nachdem das Volk Fabi, wie die Service Public Initiative in die richtigen Bahnen zu lenken, dies ist ein Skandal und eine sprichwörtliche Verarschung aller! Vermutlich reichen in Zukunft gewerkschaftliche Kundgebungen und Fahnen schwenken nicht mehr aus um Ernst genommen zu werden!