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Internationaler Personenverkehr: Stopp Rosinenpickerei

Die SBB fährt heute mit ETR 610 nach Deutschland und Italien. Die EU-Kommission will zwischen Zürich und München bald auch Flixtrain-Züge sehen. © SBB

Die EU-Kommission fordert eine Flixtrain-Verbindung Zürich – München in Konkurrenz zum bestehenden Angebot von SBB und Deutscher Bahn. Und sie droht mit Schikanen, falls die Schweiz die Öffnung des internationalen Personenverkehrs (IPV) ablehnt. «Trotzdem muss der Bundesrat am Kooperationsmodell festhalten, denn Rosinenpickerei schadet dem Eisenbahnsystem Schweiz, und das Geschäftsmodell von Flixtrain dem Bahnpersonal», warnt SEV-Präsident Matthias Hartwich. «Nachgeben brächte der Schweiz keine Ruhe, aber noch weitergehende Liberalisierungsforderungen.»

Die Flixtrain-Verbindung Zürich–München ist eines von zehn «Pilotprojekten», mit denen die EU-Kommission neue IPV-Verbindungen schaffen oder bestehende verbessern will, wie sie am 31. Januar mitteilte. Damit greift sie das gemeinsame Angebot der SBB und der Deutschen Bahn auf dieser Strecke an. Diese ist in Deutschland vor Kurzem elektrifiziert und ausgebaut worden, doch verursachen technische Probleme bisher noch oft Verspätungen und Zugsausfälle. Dies würde mit Flixtrain-Zügen nicht besser.

Dass die EU-Kommission im IPV auf den freien Zugang pocht, ist keineswegs neu. Das sah schon das dritte Eisenbahnpaket von 2007 grundsätzlich ab 2010 vor. Doch bis heute haben die meisten EU-Mitgliedstaaten diese Öffnung noch nicht oder nicht vollständig gemacht, wie im Juni 2021 der bundesrätliche Bericht zur zukünftigen Marktordnung im Fernverkehr feststellte: «Obschon es den europäischen EVU (Eisenbahnverkehrsunternehmen) seit damals möglich ist, neue grenzüberschreitende Angebote in Eigenverantwortung anzubieten, basiert der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr mit wenigen Ausnahmen auch heute auf Kooperationen. Die von der EU angestrebten Vorteile der Marktöffnung wurden in der Praxis damit verfehlt.» Der Bundesrat erfüllte mit dem Bericht den Auftrag des Postulats Regazzi von 2014 darzulegen, wie die Marktordnung im nationalen Personenverkehr nach Ablauf der SBB-Konzession im Jahr 2017 gestaltet werden sollte. Mehr Wettbewerb, Liberalisierung und Privatisierung waren Ziele, die das Bundesamt für Verkehr (BAV) im Sommer 2014 zu Zielen der Schweizer Verkehrspolitik erklärte. Es wollte die SBB-Fernverkehrskonzession bei der Ausschreibung aufteilen, wogegen auch der SEV kämpfte. Nach viel Aufregung obsiegte die Einsicht, dass Kooperation statt Wettbewerb die bessere Lösung ist. Die SBB behielt Einheitskonzession und Gesamtverantwortung, trat aber einzelne Linien an die BLS und SOB ab.

Öffnung vom Parlament gestoppt

Das BAV trieb damals auch die Öffnung des IPV voran, bis es 2018/2019 vom Parlament mit der Motion «Kooperationsmodell anstelle der Öffnung des internationalen Schienenpersonenverkehrs» gestoppt wurde. Damit wurde der Bundesrat klar beauftragt, eine allfällige Öffnung des IPV nicht in eigener Kompetenz zu beschliessen, sondern dem Parlament vorzulegen.

Im Juni 2021 hielt der Bundesrat im besagten Bericht fest, dass die Schweiz im IPV keine Öffnung anstreben und weiterhin auf Kooperation zwischen EVU aus verschiedenen Ländern setzen soll. Als Chancen einer Öffnung zählt der Bericht bessere neue Angebote, «Qualitätsdruck für bestehende Anbieter» und «Marktzugang für Schweizer EVU in der EU» auf. Als Nachteile bzw. Risiken nennt er: «Qualitätsrisiken beim Zugang von europäischen EVU, Zunahme der Trassenkonflikte, Durchsetzung der Sozialstandards bei durchgehendem Personaleinsatz, geringe Wirkung aufgrund der weiterhin vorherrschenden Kooperation (Erfahrung aus der Öffnung innerhalb der EU), Kabotage als Gefährdung für den nationalen Eisenbahnverkehr».

BAV thematisiert IPV-Öffnung wieder

Kooperation im IPV ist also seit 2021 die Position des Bundesrats. Doch nun macht das BAV die Öffnung wieder zum Thema. So teilte es nach der Sitzung des Gemischten Ausschusses Schweiz-EU zum Landverkehrsabkommen vom 2. Dezember mit, die Vertreter der EU-Kommission hätten die Übergangslösung für Zulassungen und Sicherheitsbescheinigungen für Schweizer Rollmaterial in Zusammenarbeit mit der Europäischen Eisenbahnagentur vorerst nur um ein Jahr verlängern wollen. Somit drohten den Schweizer Bahnen und Rollmaterialherstellern ab 2024 aufwändigere und längere Verfahren. «Eine weitere Verlängerung sei davon abhängig, dass die Schweiz die Übernahme des 3. und 4. Eisenbahnpakets der EU vorantreibt und insbesondere Schritte zur Öffnung des Markts im IPV einleitet», schrieb das BAV. Die Schweizer Delegation bestand aus Vertreter:innen der Bundesverwaltung und der Kantone und wurde vom BAV-Direktor Peter Füglistaler geleitet. Dieser schrieb dann Ende Januar auf LinkedIn: «Die Schweiz tut sich immer noch schwer mit der Öffnung im IPV. Über kurz oder lang kommen wir um diesen Schritt nicht herum, wenn die Schweiz eine wichtige Drehscheibe bleiben will.»

Auf die Frage der «Schweiz am Wochenende», wie diese Aussage mit der Position des Bundesrats vereinbar sei, erklärte das BAV, die Situation habe sich seit 2021 «weiterentwickelt», weil die EU Druck auf die Schweiz mache. Auf Nachfrage der SEV-Zeitung ergänzte das BAV, dass eine Öffnung des IPV durch die Schweiz «ein wichtiges Anliegen der EU erfüllt und die aktuell blockierte Situation im internationalen Landverkehr Schweiz-EU möglicherweise deblockiert». Wie wichtig der IPV der EU ist, ist aber fraglich.

Rosinenpickerei und Sozialdumping

Warum setzt die EU-Kommission ausgerechnet auf Flixtrain, also eine Plattformfirma, die selber weder Rollmaterial noch Bahnpersonal hat, sondern Leistungen möglichst günstig einkauft, um die Ticketpreise tiefer zu drücken als die Staatsbahnen? Dass diese auch unrentable Verbindungen betreiben müssen, während sich Flixtrain einzelne profitable Linien herauspickt, scheint die Kommission nicht zu kümmern. Weil Flixtrain bisher keine GAV abgeschlossen hat, gehört das Bahnpersonal sicher nicht zu den Profiteuren dieses Geschäftsmodells. «Dumpingdruck auf Anstellungsbedingungen und Arbeitnehmende tolerieren wir Gewerkschaften nicht», stellt der ehemalige SEV-Präsident Giorgio Tuti als Präsident der Eisenbahnsektion der Europäischen Transportarbeiterföderation (ETF) klar.

Gefahr für Personal und Service public

«Die EU muss endlich bilanzieren, was ihre Eisenbahnpakete gebracht haben. Die ETF hat Bilanz gezogen: Der ideologisch gewollte Wettbewerb hat dem Bahnverkehr in Europa mehr geschadet als genützt, und erst recht den Arbeitnehmenden. Für beides gibt es in Europa viele Beispiele», unterstreicht Tuti. «Öffentlicher Verkehr ist Service public, und das heisst nicht Gewinnmaximierung, sondern Nutzenstiftung. Das muss man nicht gegeneinander machen, sondern in Kooperation versuchen, der Bevölkerung das Bestmögliche zu bieten. Die Schweiz muss im IPV am Kooperationsmodell festhalten, denn die Öffnung wäre der erste Schritt zur Demontage des öV-Systems Schweiz, und die EU würde weitere Liberalisierungen fordern. Darum dürfen wir jetzt die Nerven nicht verlieren, sondern müssen dezidiert sagen: Kommt nicht in Frage!»

Siehe auch Editorial unten.

Markus Fischer
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Editorial von Matthias Hartwich, Präsident SEV

EU macht Druck – SEV fordert Standhaftigkeit

Die EU droht der Schweiz, so teilt uns das Bundesamt für Verkehr über Blogeinträge mit. Wenn die Schweiz im internationalen Personenverkehr (IPV) nicht bald mehr Wettbewerb zulässt, können Schweizer Bahnunternehmen und Rollmaterialhersteller bei der Zulassung neuer Fahrzeuge und der Ausstellung von Sicherheitsbescheinigungen für den IPV ab 2024 nicht mehr vom vereinfachten Verfahren der Europäischen Eisenbahnagentur profitieren. So ausgesprochen am 2. Dezember 2022 im Gemischten Ausschuss zum Landverkehrsabkommen. Das BAV spricht von einer «neuen Situation», die es nötig mache, der EU entgegenzukommen. Im Klartext: Flixtrain oder Westbahn sollen auf eigene Faust grenzüberschreitende Verbindungen in der Schweiz betreiben können. Solche Billiganbieter betreiben Rosinenpickerei: Profitable Linien für sich selbst, unrentable Verbindungen für die ungeliebten Staatsbahnen. Gewinne privat, Verluste dem Staat …

Dass manche EU-Bürokraten den Bahnverkehr generell liberalisieren wollen, ist nach vier Eisenbahnpaketen nicht neu. Dass sie die Mitgliedstaaten und die Schweiz in dieser Richtung unter Druck setzen, auch nicht. Neu ist nur, dass seit Januar der Schweizer Verkehrsminister wieder von einer bürgerlichen Partei kommt. So ist es bestimmt kein Zufall, dass das BAV gerade jetzt seine 2019 gestoppten Liberalisierungspläne wieder aufnimmt. Dabei hat der Bundesrat erst im Juni 2021 in einem vom Parlament bestellten Bericht klar festgehalten, dass er im IPV eben keine solche Öffnung will. Der Bericht warnt vor Qualitätsrisiken, zunehmenden Trassenkonflikten, einer Gefährdung des nationalen Verkehrs durch Kabotage und Schwierigkeiten, die Sozialstandards durchzusetzen. Verlierer des Wettbewerbs wären also das erfolgreiche schweizerische System des öffentlichen Verkehrs, die Reisenden und nicht zuletzt das Bahnpersonal. An den Grundsatz «Schweizer Löhne auf Schweizer Schienen» werden sich Plattformfirmen wie Flixtrain sicher nicht halten.

Naiv zu glauben, dass dieser Liberalisierungsschritt Ruhe brächte. Ein Nachgeben jetzt bedeutet, die Büchse der Pandora öffnen. Das ist eine Einladung an EU-Bürokraten, immer neue Forderungen zu stellen. Das Parlament muss Sorge tragen, dass die Verwaltung nicht den funktionierenden Schienenverkehr in der Schweiz aufs Spiel setzt. Ein Blick in unsere Nachbarländer, nach Skandinavien und Grossbritannien lohnt sich: So nicht! Darum müssen wir hart bleiben, zumal unser Alpenland mitten in Europa auch verkehrspolitische Trümpfe in der Hand hat.