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Matthias Hartwich zu den Verhandlungen mit der EU

Schweizer Kooperationsmodell schützen

Bei den Sondierungsgesprächen über ein Rahmenabkommen mit der EU hat das Bundesamt für Verkehr (BAV) der Öffnung des internationalen Schienenpersonenverkehrs (IPV) für den Wettbewerb anscheinend zugestimmt, obwohl sich der Bundesrat 2021 ausdrücklich für die Beibehaltung des Kooperationsmodells entschieden hat. SEV-Präsident Matthias Hartwich erklärt, warum dieses Modell gegenüber der EU verteidigt werden muss.

Warum schadet eine Marktöffnung des IPV dem Schweizer Bahnsystem?

Die Marktöffnung im IPV wäre ein Paradigmenwechsel, weil das Kooperationsmodell zugunsten von Liberalisierung und Konkurrenz aufgebrochen wird. Kooperation heisst: Die Bahnen bieten gemeinsam einen möglichst guten Service public an. Wenn aber jeder Anbieter nur auf seinen Profit schaut, schadet dies dem Gesamtsystem. Private Anbieter wollen Strecken betreiben, auf denen sie viel Geld verdienen können. Durch diese Rosinenpickerei werden die Staatsbahnen auf verlustbringende Strecken zurückgedrängt und verlieren die Einkünfte aus attraktiven Strecken. So kommen sie finanziell unter Druck und müssen auf peripheren Strecken das Angebot ausdünnen oder ganz streichen – ausser wenn die öffentliche Hand einspringt, und das wird teuer für die Steuer-zahler:innen. So verschlechtert Wettbewerb, wie ihn die EU-Kommission will, das Angebot auf den Nebenlinien unmittelbar. Dafür gibt es in EU-Ländern viele Beispiele. Verschlechtert werden auch die Arbeitsbedingungen der Verkehrsangestellten, wenn der Wettbewerb auf ihrem Rücken ausgetragen wird.

Der BAV-Direktor ist der Meinung, dass zusätzliche Flixtrain-Verbindungen das Schweizer Bahnsystem nicht gefährden und auch nicht zu Sozialdumping führen, weil orts- und branchenübliche Löhne gesetzlich vorgegeben seien ...

Das ist entweder naiv oder bewusst irreführend, weil die EU so nicht funktioniert. Branchenübliche Löhne gibt es für die EU systemisch nicht. Es gibt entweder einen allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag, oder es gibt ihn nicht – wie im öffentlichen Verkehr. Deshalb heisst branchenüblicher Lohn am Ende: Es gilt der Lohn am Ort des Dienstleistungserbringers. Das ist im Extremfall Rumänien, falls eine rumänische Bahn für Flixtrain fährt oder Flixtrain sich dort niederlässt. So oder so: Die Arbeitsbedingungen des Bahnpersonals kommen massiv unter Druck. Zudem sind viele Schweizer Bahnstrecken schon jetzt überlastet, weil sich Fern-, Regional- und Güterverkehr die Gleise teilen müssen. Insofern ist Zürich–München nicht mit den neuen Hochgeschwindigkeits-linien Paris–Turin und Paris–Barcelona vergleichbar, wo Konkurrenten vielleicht nebeneinander Platz haben. Und wenn Flixtrain nicht im Taktsystems fahren darf, besteht die Gefahr, dass der Europäische Gerichtshof dies als Diskriminierung einstuft.

Der BAV-Direktor sieht in Flixtrain-Verbindungen aber auch eine Chance für junge Leute, günstig ins Ausland zu reisen. «Doch einfach und günstig wird in der Schweiz aktiv bekämpft», behauptet Peter Füglistaler.

Das ist polemischer Quatsch. Es wird nicht «einfach und günstig» bekämpft, sondern Billigheimertum, Dumping und Rosinenpickerei. Gute, sichere Bahnproduktion mit anständigen Anstellungsbedingungen hat ihren Preis. Flixtrain ist eine Plattformfirma, die die Produktion und Verantwortung als Arbeitgeberin auslagert. Attraktive Bahnangebote für junge Menschen gibt es auch schon in anderer Form, zum Beispiel Interrail, ohne dass dafür Dumpingwettbewerb nötig ist. Und die Staatsbahnen können und müssen ihre Angebote laufend verbessern, zum Beispiel mit neuen Direktverbindungen.

Die EU droht mit Retorsionen, falls ihr die Schweiz beim Landverkehr nicht entgegenkommt. Sind ein paar Flixtrain-Verbindungen nicht das kleinere Übel?

Nein, sie sind das grössere Übel. Von den Bahnen wissen wir, dass Erschwerungen der Zulassung von Schienenfahrzeugen für sie kein grosses Problem wären. Hier wird Angstmache betrieben, und die Verkehrspolitik darf nicht für Interessen einzelner Unternehmen geopfert werden. Es geht nicht nur um ein paar Verbindungen, sondern um einen Systemwechsel. Schon wenn aus der Balance zwischen unrentablen und rentablen Linien einzelne Teile herausgebrochen werden, kann das ganze System kippen. Die Schweiz muss ihr System positiver und offensiver in die Verhandlungen einbringen, statt von Vornherein Angebote zu machen, wie es aufgeweicht und verschlechtert werden könnte.

Warum sind die EU-Regeln für staatliche Beihilfen ein Problem für die Schweiz?

Hier gibt es viel Ungewissheit, wie die aktuellen EU-Verfahren gegen die SNCF in Frankreich und gegen die DB in Deutschland wegen angeblich marktverzerrender Beihilfen für die Bahnen im Güterverkehr zeigen. Das Ergebnis ist, dass vermehrt Güterverkehr von der Schiene auf die Strasse wechselt. Die Schweizerinnen und Schweizer haben in mehreren Volksabstimmungen deutlich gemacht, dass sie eine Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene wünschen. Das ist ohne Beihilfen nicht möglich. Darum darf die Schweiz von der EU kein Beihilfenverbot übernehmen.

Markus Fischer und Simon Burgunder
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Tarife erhöhen, um Billigkonkurrenz zu rechtfertigen?

Medien haben enthüllt, dass der BAV-Direktor die Verkehrsunternehmen zur Preiserhöhung per 10. Dezember gedrängt hat. Er begründete diese bisher einmalige Intervention damit, dass die Teuerung die Tariferhöhung rechtfertige und dass sonst die Steuerzahlenden zu stark belastet würden – zumal der Bundesrat die Mittel für den regionalen Personenverkehr senken wolle. Er warf den Verkehrsunternehmen vor, mit Steuergeldern zu wenig haushälterisch umzugehen und zu wenig effizient zu sein. Was sagt der SEV dazu?

Matthias Hartwich: Wenn der Bund weiss, dass die Kosten steigen, darf er nicht zeitgleich die Mittel für den regionalen Personenverkehr kürzen. Dies hat das BAV hoffentlich bekämpft. Die von ihm geforderte Tariferhöhung wird Kundinnen und Kunden veranlassen, auf die Strasse umzusteigen. Das unterminiert die Bemühungen, Verkehr auf die Schiene zu bringen, und senkt die Frequenzen und Einnahmemöglichkeiten für die Verkehrsunternehmen. Darum wollten diese zum Teil die Tarife nicht oder weniger stark erhöhen. Wenn die gleiche Person höhere Tarife erzwingt und Billiganbieter ins Land holen will, stellt sich die Frage, ob ersteres letzteres begünstigen soll. Billiganbieter sind aber keine Lösung, weil sie nur an rentablen Linien interessiert sind.