Interview zum Jahresanfang mit SEV-Präsident Giorgio Tuti
«Eine Gewerkschaft muss fordern»
kontakt.sev: Das 2010 war ein sehr arbeitsintensives Jahr. Das 2011 hat begonnen und wird wohl nicht ruhiger werden. Konntest du über die Festtage ein wenig Kraft tanken?
Giorgio Tuti: Oh ja. Ich habe sehr viel gelesen, viel mit meiner Familie unternommen und einfach auch mal ausgespannt. Ich bin fit für das Jahr 2011 und freue mich, mit allen Kolleginnen und Kollegen dort weiterzumachen, wo wir Ende 2010 aufgehört haben: Mit viel Engagement und Energie sich für das Wohl unserer Mitglieder einzusetzen.
Das vergangene Jahr hat einige Entscheidungen gebracht zu sozialpolitischen Themen und solche mit Auswirkungen für die aktiven und die pensionierten Bahnangestellten. Wie sieht deine Bilanz aus?
Das vergangene Jahr war ein schwieriges Jahr, charakterisiert durch einen massiven Angriff auf die Sozialwerke und unseren Sozialstaat. Lupenreine Abbauvorlagen, so weit das Auge reicht. Einige Angriffe konnten wir abwehren, wie etwa denjenigen gegen die 2. Säule, andere, wie z. B. gegen die Arbeitslosenversicherung, nicht. Und dieser Druck wird leider nicht nachlassen, denn die politische Zusammensetzung im National- und Ständerat ist alles andere als arbeitnehmerinnen- und arbeitnehmerfreundlich. Dieses Jahr finden im Herbst wieder National- und Ständeratswahlen statt, und wir werden es wieder einmal in unseren Händen haben, wen wir wählen und wen wir eben nicht mehr wählen wollen. Wir werden in unserer Zeitung schonungslos aufzeigen, wer und welche Parteien es mit Arbeitnehmenden und Pensionierten gut meinen und wer eben nicht. Das unendliche und schwierige Geschäft der Sanierung der Pensionskasse SBB ist letztes Jahr in den Erstrat gegangen. Nachdem der SEV in der Finanzkommission angehört wurde, hat sich der Ständerat anschliessend mit 40:0 für die Sanierung in der Höhe von 1,148 Mia. Fr. ausgesprochen. Damit ist aber noch nichts erledigt. 2011 wird dieses Geschäft in den Nationalrat kommen. Unsere Überzeugungsarbeit bei den Parlamentsmitgliedern muss mit der gleichen Intensität fortgeführt werden.
Wie sieht es bei den eigentlichen gewerkschaftlichen Themen aus?
Wir konnten im KTU-Bereich neue GAV, Gesamtarbeitsverträge, abschliessen und bestehende GAV erneuern. Das ist unser Kerngeschäft, und das beherrschen wir sehr gut. Die nationalen, kantonalen und firmenbezogenen GAV, die der SEV abgeschlossen hat, sind qualitativ auf einem guten Niveau, darauf können wir stolz sein. Und schliesslich konnte Ende 2010 – nach monatelangen Verhandlungen, begleitet durch Mobilisierungsaktionen unserer Kolleginnen und Kollegen – das neue Lohnsystem bei der SBB abgeschlossen und mit diesem Abschluss der bisherige GAV SBB / SBB Cargo um 3½ Jahre verlängert werden. Das sind nur einige, wenn auch sehr wichtige Geschäfte, die wir abschliessen konnten. Das sogenannte Tagesgeschäft, wie etwa die Dienstleistungen, Rechtsschutz, Betreuung etc. für unsere Mitglieder, konnte weiterhin auf einem beachtlichen Niveau erledigt werden.
Wie sieht also deine Bilanz aus?
Man darf nie zufrieden sein und das bin ich auch nicht. Ich bin aber der Meinung, dass wir auch im vergangenen Jahr einiges für unsere Mitglieder herausholen konnten.
Die Bilanz fällt also moderat positiv aus. Ist es nicht etwas duckmäuserisch, Maximalforderungen zu stellen, einen Kompromiss zu erzielen und das Erreichte als Erfolg zu werten?
Nein, das ist ganz normal. Eine Gewerkschaft muss fordern, eine Gewerkschaft muss verhandeln und dabei das Bestmögliche erreichen. Eine Gewerkschaft muss aber auch einlenken können, Kompromisse eingehen, denn unsere Mitglieder wollen nicht nur Konflikte, sondern auch Resultate. Ein gutes Beispiel dafür war der Abschluss mit der SBB, gepaart mit der Verlängerung des übrigen GAV ohne jegliche Änderung um 3½ Jahre.
Der SEV hat sein erstes Jahr mit der neuen Leitungsstruktur hinter sich, mit dem «Vorstand auf der strategischen Ebene» und der «Geschäftsleitung, die umsetzt», wie du vor einem Jahr sagtest. Hat sich das bewährt?
Vor einigen Wochen hat sich der Vorstand anlässlich eines Seminars genau diese Frage gestellt. Der Vorstand hat nach einem ganzen Jahr Arbeit Zwischenbilanz gezogen und dabei festgestellt, dass er auf dem richtigen Weg ist. Verbesserungspotenzial gibt es sicher noch, aber wir haben festgestellt, dass sich im Vorstand allmählich eine gesunde Diskussions- und Streitkultur entwickelt, die für die Entscheidfindung sehr wertvoll ist. Wichtig ist (und das ist unsere Pflicht), dass wir vermehrt auch Zukunftsfragen angehen wie z. B. die Positionierung des SEV in der Gewerkschaftsbewegung. Bei solchen Diskussionen darf und soll es keine Tabus geben; denn wir müssen uns mit unserer Zukunft auseinandersetzen, ob es uns gefällt oder nicht.
Dieses Jahr wartet wieder ein Kongress auf die Mitglieder des SEV. Was erwartest du davon?
Am Kongress 2009 haben wir im Rahmen der Strukturreform auch den Kongress «reformiert». Den Kongressrhythmus haben wir auf zwei Jahren belassen. Was wir geändert haben, ist die jeweilige Kongressdauer. Wir tagen alternierend ein und zwei Tage. 2011 findet der eintägige Kongress statt – ein Arbeitskongress. Ich erwarte gute und zukunftsweisende Diskussionen und Beschlüsse über die Ausrichtung der gewerkschaftlichen und politischen Arbeit und unserer Aktivitäten im öffentlichen Verkehr. Ich erwarte aber auch engagierte Diskussionen im Zusammenhang mit dem Tätigkeitsbericht, den Positionspapieren und der Behandlung der Anträge und nicht zuletzt interessante Gespräche und ein Wiedersehen mit vielen Kolleginnen und Kollegen. An einem Kongress (auch wenn er nur eintägig ist) soll auch die Pflege der Kollegialität nicht zu kurz kommen.
Welche Hoffnungen hast du für den SEV und insbesondere für seine Mitglieder für das Jahr 2011?
Hoffnung ist das falsche Wort. Ich habe vielmehr Prioritäten im Zusammenhang mit der Gewerkschaftsarbeit für das Jahr 2011, die wir mit aller Kraft angehen müssen. Eine Gewerkschaft kann nicht hoffen, eine Gewerkschaft muss mit allen Mitgliedern auf gemeinsame Ziele hin arbeiten, und das werden wir auch weiterhin machen. Einige Beispiele: Wir müssen vertragspolitisch am Ball bleiben und anstehende, neue und zu erneuernde GAV abschliessen. Wir müssen im 2011 den Abschluss von kantonalen GAV forcieren, etwa in den Kantonen Zürich, Wallis, Aargau und Tessin. Weiter müssen wir in den verschiedenen Unternehmungen das Thema Reorganisationen und ihre Umsetzung auf eine neue Diskussionsbasis stellen. Unsere Mitglieder leiden oft an Reorganisationen und an deren Folgen, was sich stark auf ihre Zufriedenheit und Motivation niederschlägt – siehe z. B. die Personalzufriedenheitsresultate bei der SBB. Oft werden Reorganisationen als unnötig und hinderlich empfunden und das mangelnde Einbeziehen der Mitarbeitenden kritisiert. Hier besteht riesiger Handlungsbedarf, auch im Interesse der Unternehmungen, denn wer kann sich «frustriertes» Personal schon leisten? Ein weiteres Geschäft ist sicher die Sanierung der Pensionskasse SBB. Da müssen wir dran bleiben wie bis anhin, mit einem hartnäckigen Lobbying und mit unseren guten Argumenten. Auch die SBBPeko- Wahlen finden 2011 statt, da wollen wir für die Kandidierenden, die unsere Mitglieder sind, eine gute Kampagne machen und nach der Wahl die Zusammenarbeit intensivieren.
Was ist das wichtigste «im Haus»?
Die Mitgliederwerbung! Wie schon 2009 haben wir es auch 2010 geschafft, bei den aktiven Mitgliedern, also jenen Mitgliedern, die im Erwerbsleben stehen, zu wachsen. Wir haben dort mehr Mitglieder geworben, als wir Austritte zu verzeichnen hatten. Die Zahl der Austritte ist im 2010 ebenfalls zurückgegangen, was sehr positiv ist. An dieser Stelle will ich auch den Pensionierten ein Lob aussprechen, die praktisch keine Austritte zu verzeichnen haben. Dieses Resultat ist einzig und allein auf eine ausgezeichnete Mitgliederbetreuung und ein interessantes Aktivitätsprogramm zurückzuführen. Leider hatten wir auch im vergangenen Jahr viele Todesfälle bei den pensionierten Kolleginnen und Kollegen zu verzeichnen. Diese Todesfälle führen dazu, dass der SEV auch 2010 gesamthaft einen Mitgliederrückgang verkraften muss. Die Mitgliederwerbung hat eine sehr hohe Priorität, und wir werden mit allen Mitgliedern in den verschiedenen Unterverbänden und in den Sektionen unsere gemeinsamen Anstrengungen weiter intensivieren müssen. An dieser Stelle möchte ich es aber nicht unterlassen, allen Werberinnen und Werbern für ihre Arbeit zu danken.
Die Fragen stellte Peter Anliker