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Ausgangslage zu den Wahlen aus der Sicht des Politologen

«Nicht so wie von rechts erhofft und von links befürchtet»

Der Politikwissenschaftler Daniel Kübler beurteilt die zu Ende gehende Vier-Jahres-Periode der Schweizer Politik als «normal»: Die neuen Mehrheitsverhältnisse hätten zwar gespielt, aber das Volk habe gebremst, wenn es nötig geworden sei. Und: Trotz Klimawahl werden in den nächsten vier Jahren auch andere Themen eine Hauptrolle spielen.

SEV-Zeitung: Man hört sowohl von links als von rechts, die letzten vier Jahre seien eine verlorene Legislatur gewesen. Wie sehen Sie das?

Prof. Dr. Daniel Kübler: Aus der Sicht der Parlamentarier stimmt das schon. Es ist tatsächlich so, dass der Rechtsrutsch aus den letzten Wahlen nicht so zum Tragen gekommen ist, wie man es sich auf Seiten von FDP und SVP wohl erhofft hat. Aber das liegt weniger am Parlament als an den Volksabstimmungen: Dort ist bei wichtigen Vorhaben nicht mehr viel von dieser rechten Mehrheit übriggeblieben. Die bürgerlichen Parteien finden also vielleicht, es sei eine verlorene Legislatur, aber insgesamt war es eigentlich eine Legislatur wie jede andere.

Ein Kommentar zur Legislatur fasste es knapp zusammen mit «Alles für die Bauern, nix für die Papis». Was wäre Ihre Kurzfassung?

Bei den Vätern läuft ja noch einiges, das kann noch werden. Und dass die Bauern viel bekommen, ist nichts Neues, das passt ebenfalls zu den vorhergehenden Perioden. Ich würde sagen: Nichts Neues unter der Sonne!

Sie würden sagen, trotz leicht verschobenen Mehrheiten…

(Unterbricht) Es war natürlich eine klare Mehrheit der bürgerlichen Parteien! Aber aufgrund der verschiedenen Bremsen der direkten Demokratie und damit dem Zwang zum Kompromiss hat sie sich nicht so ausgewirkt, wie man es sich von rechter Seite erhofft hatte und von links befürchten musste.

Die SVP-FDP-Mehrheit hat also versucht, ihre Macht auszuspielen, aber sie konnte die bremsenden Elemente nicht überwinden?

So ist es!

Hat der Ständerat seine Rolle wie üblich gespielt oder hat er sich verändert?

Den Ständerat habe ich in der letzten Legislatur nicht als aussergewöhnlich wahrgenommen.

Hat er nicht mit dem AHV-Steuer-Deal ein wesentliches Geschäft erfolgreich aufgegleist?

Doch. Da hat er tatsächlich seine Rolle als «Chambre de réflexion» gespielt und einen tragbaren Kompromiss auf Erfolgskurs gebracht.

Von links und rechts waren also Erwartungen vorhanden, die sich nicht erfüllt haben. Wie wirkt sich diese Situation auf die bevorstehenden Wahlen aus?

Überhaupt nicht. Wenn wir auf die Wahlprognosen schauen, finde ich überraschend, dass die Linke nichts verlieren wird. Gerade in der Europapolitik ist viel Feuer im Dach, was aber anscheinend niemand kümmert, wobei das auch an der Strategie der SP liegt, die das Thema Rahmenabkommen vermeiden will. Wie aus den kantonalen Wahlen abzusehen ist, wird sich die Mobilisierung von Wählerinnen und Wählern fortsetzen, die Klimaanliegen wichtig finden. Es wird also sehr wahrscheinlich eine Zunahme bei Grünen und Grünliberalen geben.

Wäre es dazu ohnehin gekommen, weil es ein allgemeines Klimabewusstsein gibt, oder ist das die Folge der Bewegung, die in Schweden begonnen hat?

Es ist beides. Diese Bewegung kommt ja nicht aus dem Nichts. Sie steht vor dem Hintergrund von Ereignissen, die mit dem Klimawandel im Zusammenhang stehen, oder die man im Zusammenhang mit dem Klimawandel sieht, extreme Hitzewellen und Trockenheit im Sommer 2018, Stürme im Pazifik und im Atlantik, die den Eindruck hinterlassen, dass der Klimawandel nichts Abstraktes mehr ist, sondern spürbar wird. Es liegt ja nicht allein an Greta Thunberg, dass so viele Leute auf die Strasse gehen. Es sind Anliegen, die real sind und deshalb Einfluss auf die Wahlen haben. In der Schweiz besonders vor dem Hintergrund einer notorisch tiefen Wahlbeteiligung. Da wirkt es sich ziemlich stark aus, wenn man zusätzliche Leute an die Urnen bringt, die dann vor allem Grün und Grünliberal wählen. Wegen der tiefen Wahlbeteiligung haben solche Mobilisierungen über konkrete Themen einen grossen Einfluss auf das Resultat.

Bei den Europawahlen und gerade erst in den ostdeutschen Bundesländern hat die Wahlbeteiligung massiv zugenommen. Ist das ein allgemeiner Trend oder je nach Situation verschieden?

Es ist kein Trend. Die Wahlbeteiligung nimmt im Trend eigentlich ab. Aber es ist tatsächlich so, dass der Aufstieg neuer Parteien und neuer Themen zusätzliche Wähler an die Urnen bringt, gleichzeitig aber auch die Gegner mobilisiert. Generell gilt: je heftiger der politische Konflikt ist, umso heftiger ist die Mobilisierung und damit auch die Wahlbeteiligung.

Das würde also bedeuten, Grün und Grünliberal legen zu. Was bewirkt das in der Politik der nächsten Jahre?

Das wird man sehen. Gerade jetzt in der Herbstsession gab es ein Beispiel: Die FDP versucht sich ja des Themas anzunehmen; Frau Gössi und Herr Walti an der Parteispitze verkünden öffentlich, die FDP sei jetzt für Klimaschutz. Aber im Parlament sieht man das Gegenteil: Im Nationalrat hat die FDP gegen die Verschärfung von Klimaschutzregeln gestimmt. Ich finde es interessant, dass bei den bürgerlichen Parteien wenig Auswirkungen sichtbar sind – was wohl im Hinblick auf die Wahlen nicht besonders intelligent ist.

Wenn sich ein Thema so vordrängt, bedeutet dies, dass die andern weniger Bedeutung haben? Sind dieses Mal soziale, gesellschaftliche oder Verkehrsthemen weniger wichtig?

Im Wahlkampf wahrscheinlich schon, aber nachher in der Legislatur nicht. Das Parlament wird sich trotz des stark auf Klimaschutz ausgerichteten Wahlkampfs in der nächsten Legislatur mit wichtigen Fragen beschäftigen, die jetzt bei den Wahlen nicht besonders im Vordergrund gestanden sind; etwa die Europafrage, die während der Legislatur stark zu reden geben wird. Man wird dann sehen, wie sich die Wahlen auswirken. Die Grünliberalen haben ja von Anfang an gesagt, dass sie die einzigen sind, die ein 100-prozentiges Bekenntnis für gute Beziehungen mit der EU abgeben. Das geht im Moment völlig unter, aber wenn sie im Parlament wegen der Klimafrage zulegen, dann wird das auch Auswirkungen in der Aussenpolitik haben.

CVP und SP haben beide als Wahlkampfvehikel jeweils eine Initiative zu den Gesundheitskosten lanciert. Haben sie einfach aufs falsche Ross gesetzt?

Es sieht so aus! Vor allem weil Bundesrat Berset jetzt noch angekündigt hat, dass erstmals seit langem Prämien sinken, die Kostensenkungsmassnahmen also zu greifen scheinen. Das Problem ist immer noch gross, aber man könnte auf die Idee kommen, es sei nicht mehr so gross und deswegen als Wählerin, Wähler nicht SP und CVP wählen.

Was fällt Ihnen im Wahlkampf auf?

Dieses Wurmplakat der SVP scheint keinen mehr zu beeindrucken. Das alte Muster war: Man macht ein möglichst schlimmes Plakat, alle regen sich auf, und die SVP hat die Aufmerksamkeit. Das scheint nicht mehr zu funktionieren. Irgendwie hat sich das totgelaufen, und das finde ich eine interessante Entwicklung.

Unter anderem in Ungarn, der USA und eben erst Grossbritannien kamen Politiker demokratisch an die Macht, die sich danach eher antidemokratisch verhalten haben. Sehen Sie Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Schweiz?

Eigentlich nicht. Erstens muss man sagen, dass in der Schweiz die Wertehaltungen zur Demokratie relativ stabil sind, andererseits haben wir in der Schweiz schon lange Erfahrung mit Politikern, die sich gegenüber den demokratischen Prinzipien zweifelhaft verhalten und sich antidemokratisch äussern – siehe SVP-Wahlplakat. Die Konsensdemokratie in der Schweiz und dann eben auch die verschiedenen Institutionen, die zur Machtteilung beitragen, führen dazu, dass solche Kräfte gebremst werden. So sind die Durchsetzungsinitiative und ähnliche abgelehnt worden. Es gibt also Hinweise darauf, dass das Demokratiemuster, das wir in der Schweiz haben, resistenter ist gegen solche Angriffe als es beispielsweise im Mehrheitssystem von Grossbritannien der Fall ist.

Dieses Interview erscheint gut drei Wochen vor den Wahlen. Was kann sich in dieser Zeit noch ändern, was kann eine Partei in dieser Zeit noch richtig oder falsch machen?

Man kann immer etwas falsch machen! Irgendein Skandal wäre sicher schlecht. Es kann alles passieren, von daher sind Wahlprognosen immer schwierig, besonders wenn die Wahlen in der Zukunft liegen…

SEV-Zeitung, Peter Moor

Zur Person

Daniel Kübler
Prof. Dr. Daniel Kübler (50) hat in Zürich die Matur gemacht, in Lausanne in politischen Wissenschaften doktoriert und an der Uni Zürich habilitiert. Er ist Professor für Demokratieforschung und Public Governance am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich sowie Leiter der Abteilung für Allgemeine Demokratieforschung am Zentrum für Demokratie Aarau. Er ist Vater von drei Kindern und Karatesportler.