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Officine Bellinzona: zehn Jahre nach dem historischen Streik, der die Schweiz erschütterte

Officine: zurück in die Zukunft

Gianni Frizzo, charismatisches Gesicht des Kampfes für die Officine, lässt die wichtigsten Momente Revue passieren, die zum historischen Streik geführt haben. Und er wirft einen besorgten Blick auf die neuen Szenarien. Seine Botschaft: Ohne wirklichen Einbezug der Arbeiter/innen kommt man nirgends hin!

Gianni Frizzo: Ich habe die Arroganz nie ertragen und all das, was Mächtige tun, um Menschen zu schaden. Menschen und ihre Würde zu respektieren ist ein unverzichtbares Prinzip. Ich kämpfe gegen Ideen, nicht gegen Menschen.

Die Bilder des historischen Kampfes zur Rettung der Officine in Bellinzona sind ihm präsent, als wäre es gestern gewesen. Präzis und auf die wichtigsten Punkte gerichtet ruft Gianni Frizzo stolz die Tage des Kampfes in Erinnerung – und wendet sich klarsichtig der Zukunft zu. Die Geschichte hat ihn an die Spitze des Kampfes gegen die Umstrukturierungspläne in den Officine gestellt: Frizzo ist und bleibt die kollektive Stimme der Belegschaft. Diese muss weiterhin wachsam bleiben, denn die Pläne für die Zukunft der Officine überzeugen wenig.

«Was mir während des Streiks am meisten auffiel», sagt Frizzo, «war die Geschlossenheit der Belegschaft, die bereit war, gegen die Entscheidungen der Betriebsleitung zu kämpfen. Und die Solidarität der Bevölkerung. Alle diese Menschen zu sehen, geeint unabhängig von der politischen Zugehörigkeit, war eine unglaubliche Erfahrung. Diese Welle der Solidarität drückte den Protest gegen alle Restrukturierungen aus, die über all die vergangenen Jahre auf Kosten der Arbeiter durchgeführt wurden.»

In der Schweiz, die seit Jahren ihren wirtschaftlichen Wohlstand auf dem Arbeitsfrieden aufgebaut hat, ist «Streik» ein Tabuwort. In den Officine aber hat er eine Dimension erreicht, die weit über den Kampf der Arbeiterschaft hinausgeht. «Zuvor hatte man im Streik immer etwas gesehen, das irgendjemanden schädigen muss. Es war ein unaussprechliches Wort. Heute dagegen haben viele Leute erkannt, dass ein Streik nichts anderes ist als ein Mittel, seine Würde und seine Rechte zu verteidigen.» So ging es auch den Mitarbeitenden der Langenseeschifffahrt, auch wenn ihre Situation völlig anders war als jene in den Officine.

Ausgangs- und Zielpunkt: das Personal

Auch nach zehn Jahren spürt Frizzo noch immer das Gewicht der Verantwortung. «Heute wie damals braucht es konkrete Antworten auf die Anliegen und Forderungen, die es notwendigerweise dort gibt, wo täglich gearbeitet wird. Es gibt keine Antworten von oben herab und kein Erzwingen von Positionen. Unser Ausgangs- und Zielpunkt muss die Arbeit und die Belegschaft sein. Es ist auch eine Frage des Vertrauens, das ich nicht verraten will.» Genau dieses Vertrauen fehle heute in der Auseinandersetzung mit der SBB, die den GAV frontal angreift. «Ich glaube seit Jahren nicht mehr an schöne Worte, an Schulterklopfen, an Pseudo-Zusicherungen und an Absichtserklärungen, die nicht von langer Dauer sind.»

Die zehn Jahre ständiger Bestrebungen um einen Neustart der Officine haben Gianni Frizzo extrem vorsichtig gemacht. Doch seine Vorsicht konnte seiner Vision der Zukunft nichts anhaben. Seine Bemühungen orientieren sich unverrückbar an der Volksinitiative zur Schaffung eines Kompetenzzentrums für Industrie und Technologie, welche die Streikenden am 1.April 2008 mit über 15000 Unterschriften einreichten. «Auf grund dieses Vorschlags von uns, der später in der Schublade verschwand, beauftragte die Tessiner Regierung die Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana damit, Szenarien für die Zukunft der Officine auszuarbeiten. Herzstück der ganzen Diskussion waren die Officine. Und meiner Ansicht nach müssten sie es noch immer sein. Seit dem Streik haben wir, ausgehend von der Mobilisierung der Belegschaft, immer versucht, zusammen mit den Gewerkschaften und den politischen Instanzen in dieser Richtung am selben Strick zu ziehen. So gaben wir der Auseinandersetzung und den Diskussionen sozusagen einen neuen Rahmen. Doch leider habe ich heute den Eindruck, dass wir in die alten, abgenutzten Muster zurückfallen.»

Gianni Frizzo, gestern wie heute das Gesicht der Arbeiterschaft im Kampf für eine Zukunft der Officine von Bellinzona.

Frizzo findet, dass einige den wahren Sinn des Kampfes aus den Augen verloren haben: den Erhalt der Arbeitsplätze, die kollektive Verteidigung der Rechte und der Würde der Arbeitnehmer/innen. «Mich interessieren die politischen Gegensätze wenig. Ich will, dass die Direktbetroffenen, die Angestellten, auf der Basis ehrlicher Vereinbarungen eine wirkliche Zukunft haben. Wenn wir nach zehn Jahren immer noch hier sind, um über die Officine zu diskutieren, zeigt dies, dass es sich gelohnt hat zu kämpfen. Und wir sind bereit, weiterzumachen. Der Ausgang ist immer noch offen, und ich will zusammen mit all meinen Weggefährten diesen Weg zu Ende gehen. ‹Arbeit und Würde› ist für mich kein Schlagwort, sondern ein Aktionsplan und immer wieder der Ausgangspunkt. Und wenn alle immer noch daran glauben, sollte unsere Empörung bei einem Angriff gross genug sein, um angemessen darauf reagieren zu können.»

Frizzo findet es richtig, den Generalstreik vor 100 Jahren zu feiern: «Wenn man einen Kampf nicht gewinnen konnte, bedeutet das nicht, nicht im Recht gewesen und auf der falschen Seite gestanden zu sein. Den Mut zu haben, zu kämpfen und Partei zu ergreifen, ist schon ein grosser Wert für sich. Aber noch wichtiger, als unsere Vorfahren zu feiern, ist es, etwas Konkretes für die heutigen Arbeiter zu tun, die mit enormen Problemen konfrontiert sind.»

Nicht ohne die Basis

Für Gianni Frizzo ist der Einbezug der Basis unabdingbar, er hört nicht auf, dies zu betonen, denn ohne die Kraft der Gemeinschaft sei es schwierig, eine Schlacht zu gewinnen. Doch das genüge noch nicht. «Man muss auch sein Gegenüber gut kennen und merken, ob es ein glaubwürdiger und zuverlässiger Gesprächspartner ist. Es ist eine Frage der Machtverhältnisse. Wir sagten der SBB klar, dass wir den Streik erst abbrechen, wenn sie den Restrukturierungsplan zurückzieht. Diese Entschlossenheit, den Rückzug zu fordern und nicht auf vage Versprechungen zu vertrauen, war erfolgreich. Ein kleines bisschen Unentschlossenheit genügt, um zu verlieren.»

Gianni Frizzo hat zu viel gesehen, um dem «guten Wort», den Absichtserklärungen zu vertrauen. Vertrauen sei schwierig bei einem Arbeitgeber wie der SBB, der heute bei den GAV-Verhandlungen die Rechte der Angestellten frontal angreift. Der bei Cargo 800 Arbeitsplätze streichen will. Unter diesen Vorzeichen sei es schwierig, an die «neuen» Officine zu glauben, wie sie sich die SBB vorstellt. «Wir sollten uns weiter an der Volksinitiative von 2008 zur Schaffung eines Kompetenzzentrums orientieren. Doch statt ihren tiefen Sinn der Wiederbelebung und Innovation der Officine zu erfassen, nörgelt man an Details herum. Es gibt Interessen, die wenig mit der Verteidigung und Sicherung von Arbeitsplätzen zu tun haben. Wenn wir es wieder der SBB überlassen, die Zukunft der Officine zu gestalten, werden die Vereinbarungen nicht eingehalten. Dann sind zehn Jahre Kampf im Eimer.»

Françoise Gehring/Pascal Fiscalini /pan.

Mitsprache und Unduldsamkeit

Manchmal frage ich mich, ob es wirklich wahr ist, dass ich vor zehn Jahren meine ganzen Tage (und Teile der Nächte) in den «Officine» zubrachte, um mit den Kolleg/innen zu überlegen und zu diskutieren, wie wir unser Ziel erreichen könnten: die Rettung der Officine in Bellinzona, und die SBB davon zu überzeugen, ihren absolut unverständlichen Schliessungsentscheid zurückzunehmen. Doch nicht, weil meine Erinnerung verblassen würde. Die Präsenz der Bevölkerung in der Malerei, die drei Extra- züge nach Bern zum Vatertag, die zahlenmässig gewaltige Teilnahme an zwei Demonstrationen innerhalb von drei Tagen, der Staatsrat, der mit uns zusammen auf der Strasse war – und tausend Episoden mehr: das hat sich unter die Haut eingebrannt und wird, denke ich, nie verschwinden.

Weg mit meinen Zweifeln: Die Officine gibt es unbestreitbar und sie behielten ihre Wichtigkeit fürs wirtschaftliche und soziale Cluster unserer Region, indem sie rund 400 Personen unmittelbar Arbeit geben; auch die SBB, hört man, sei zufrieden darüber.

All das ist natürlich nicht nur dem Streik zu verdanken, so spektakulär er auch war. Sondern auch dem Umstand, dass die Personalvertreter während all den Gesprächen am Runden Tisch und im Rahmen der späteren «Diskussionsplattform» das öffentliche Interesse an den Officine wachzuhalten wussten.

Auch wenn es unbescheiden tönt: Ich bin überzeugt, dass die heutigen Diskussionen über die Zukunft der Officine ebenfalls dem Engagement der Personalvertreter zu verdanken sind.

Was mich als Insider stört, ist der fortwährende Versuch der SBB-Führung, die Rolle der Personalvertreter zu schmälern. Und ihr Drängen auf eine «Rückkehr zum Normalzustand» – wie sie es nennt –, indem sie die Entscheidungen, die sie vor zehn Jahren traf, als einen missglückten Rettungsversuch zu verniedlichen versucht. Sie bemüht sich, die Sache zu verwässern. Statt wirklich offen und und ehrlich darüber sprechen zu wollen, wie man nun aus einer durch- aus ungewöhnlichen Situation das Beste machen kann.

Mich stört diese zunehmende Unduldsamkeit gegenüber dem Willen des Personals zur Mitsprache, und dies auch in anderen Kreisen, die sich jetzt die Haltung der SBB zu eigen machen und dabei unsere Bedenken übergehen. Das kann man zwar angesichts der unbestrittenen Vorteile der jüngsten Vorschläge ein Stück weit verstehen. Doch sollte die Erinnerung daran, woher wir in den letzten zehn Jahren gekommen sind, zumindest zum Denken anregen und zu einer anderen Haltung führen.

Pietro Gianolli/pan.

2008: Die Chronik

Am 7. März 2008 gibt die SBB-Führung bekannt, den Wagenunterhalt privatisieren und den Lokomotivunterhalt delokalisieren zu wollen. Der Plan sieht den Abbau von 120 Arbeitsplätzen vor.

430 Angestellte der Officine von SBB Cargo in Bellinzona treten sofort in den Streik. Innerhalb weniger Tage wächst eine grosse Protestbewegung, die die ganze Region erfasst.

«Die Malerei», wo Züge lackiert werden, wird zum Herz und Symbol des Kampfes. Das Tauziehen zwischen den Streikenden und dem Management der SBB dauert dreissig Tage. Der intensive Monat mobilisiert die gesamte «Classe politique».

Die Verhärtung der Fronten zwingt Verkehrsminister Moritz Leuenberger zum Eingreifen. Am 5. April muss die SBB-Führung den Restrukturierungsplan zurückziehen und die Beibehaltung der Werkstatt bis 2012 gewährleisten.

Am 7. April unterbricht die Arbeiterversammlung die Kampfmassnahmen und erteilt dem Streikkomitee das Mandat zur Teilnahme an dem zwischen den Parteien vereinbarten Run- den Tisch mit dem Auftrag, die Aktivitäten der Officine auch nach 2012 zu erhalten und weiterzuentwickeln.