Gespräch zum Jahresbeginn
«Meinen Job kann ich ohne euch nicht machen»
Die erste Nummer des Jahres bietet uns Gelegenheit, den Präsident des SEV über die Herausforderungen zu befragen, die auf die Gewerkschaft im Jahr 2018 zukommen. Giorgio Tuti lässt uns teilhaben an seinen Überlegungen zu den Fragen, die uns das ganze, überaus befrachtete Jahr beschäftigen werden.
kontakt.sev: Ein Schwerpunkt des SEV im Jahr 2018 werden die Verhandlungen zum GAV SBB/SBB Cargo sein. Wie werden diese ablaufen?
Giorgio Tuti: Wenn man sich die generelle Situation vor Augen führt, in der der Service public, die Arbeitsplätze und der Contrat social unter Druck sind, werden die Verhandlungen noch härter geführt werden als in der Vergangenheit. Der GAV regelt die Arbeitsbedingungen. Ich erwarte Angriffe auf den Kündigungsschutz und Forderungen nach mehr Flexibilisierung. Ende letzten Jahres habe ich dargelegt, dass diese Verhandlungen den ganzen SEV fordern werden und erste Priorität haben, da unsere Vertragspolitik auf diesem GAV beruht.
Der Schwerpunkt gehört also der SBB?
Nein. Das Augenmerk gilt nicht der Unternehmung, sondern den Inhalten. Wenn wir in diesem GAV Rückschläge verzeichnen, hat das Auswirkungen bei den KTU und den andern Transportunternehmen. Deshalb ist er für uns so wichtig.
Für ein gutes Resultat wird es zweifellos eine starke Mobilisierung brauchen…
Völlig klar! Wer glaubt, dieser GAV werde am runden Tisch ohne begleitende Mobilisierung diskutiert, irrt sich. Wir werden alle Kräfte mobilisieren, um einen GAV mit einer gewissen Qualität zu verteidigen, wie wir ihn für die nächsten Jahre wollen. Wir haben gute Argumente und werden unsere Trümpfe spielen. Wir wollen den GAV nicht nur retten, sondern auch verbessern.
Auf welchem Weg glaubst du die Zahl und Stärke der Mitglieder erhöhen zu können – auch dies ist ja ein Schwerpunkt 2018?
Unsere Mitglieder sind im allgemeinen mit den Leistungen zufrieden, die wir bieten. Unsere Organisation ist stabil und arbeitet effizient. Das Niveau der Kollektivverträge ist in unserer Branche höher als in andern. Dies muss bei den kommenden Verhandlungen wie bei der Werbung betont werden. 2018 müssen wir die Kollegen – allen voran die jungen und die Frauen – davon überzeugen, dass sich das Mitmachen im SEV lohnt.
Nenne drei Argumente, mit denen man jemanden von einem Beitritt in den SEV überzeugen kann!
Gute Arbeitsbedingungen und gute GAV fallen nicht einfach vom Himmel. Sie sind nur dank einem hohen Organisationsgrad möglich. Gemeinsam haben wir bei den Verhandlungen mehr Gewicht. Im übrigen bietet die Gewerkschaft nicht nur Leistungen, sondern auch Sicherheit. Gewerkschaftlich organisiert sein heisst, dass man den Schutz einer ganzen Organisation im Rücken hat. Und schliesslich bietet eine Gewerkschaft ihren Mitgliedern auch Weiterbildungsmöglichkeiten, um auch im Beruf weiterzukommen.
Der technologische Wandel, den wir erleben, ist eine weitere grosse Herausforderung für den SEV. Wie kann man gewerkschaftlich darauf reagieren?
Die Leitung der SBB spricht jeden Tag von Digitalisierung, Automatisierung und Umbau. Wir wollen uns der Entwicklung nicht verschliessen, aber wir begleiten sie nur, wenn wir gewisse Garantien bekommen. Die Veränderungen dürfen nicht gegen die Leute durchgeführt werden, sondern nur mit ihnen. Deshalb braucht es Beschäftigungsgarantien: Sicherheit der Arbeitsplätze und Schutz vor Entlassungen.
Warum versucht das BAV in der Schweiz die Liberalisierung im Verkehr voranzutreiben, statt den Service public zu verteidigen?
Als 2014 das Bundesamt für Verkehr seine neue Vision für den Verkehr im Jahr 2030 publizierte, schlug ich Alarm. Damals wollte mir niemand zuhören. Heute merkt man, dass der Zug Richtung Liberalisierung noch stärker ist, als wir uns das damals vorgestellt haben. Man will die Branche so weit wie möglich dem freien Markt öffnen, indem man überall Konkurrenz einführt wie zwischen den Fernbussen und dem Zug. Dahinter steht pure Ideologie, vor allem die Überzeugung, dass Wettbewerb die Leistungen verbessert und die Kosten senkt.
Ist dies denn nicht der Fall?
Unsere Nachbarländer, die die Konkurrenz eingeführt haben, machen ganz andere Erfahrungen: In Deutschland sind beispielsweise die Preise mit dem Markteintritt von Flixbus in der ersten Phase tatsächlich gefallen. Nachdem die Konkurrenz ausgeschaltet war, hat das Unternehmen die Preise um 30% erhöht. Die Qualität ist aber nicht gestiegen. Am Schluss zahlen immer das Personal und die Fahrgäste die Zeche. Auch am Beispiel von Schweden zeigt sich das sehr deutlich.
Wie können diese Ausschreibungen im Regionalverkehr verhindert werden, wenn diese Praxis sogar im Gesetz festgeschrieben ist?
Es ist schwierig, trotzdem muss man die Umsetzung der BAV-Vision bekämpfen. Wir führen diesen Kampf auf politischer wie gewerkschaftlicher Ebene. Die Entwicklung der Vision eines Bundesamts kann nicht im Hinterzimmer geschehen ohne Rückendeckung durch das zuständige Departement. Wir müssen deshalb den Kampf jetzt führen und nicht hypothetische Entwicklungen abwarten.
Seit mehr als fünfzehn Jahren sitzt du in den leitenden Gremien der Gewerkschaft. Wie schaffst du es, den Kontakt zur Basis und zur Realität «in der Fläche» zu bewahren?
Wenn du meine Agenda anschaust, merkst du rasch, dass ich zwar sehr wohl Gewerkschaftspräsident bin, aber mit guter Verankerung in der Basis. Die Hälfte meiner Arbeitszeit verbringe ich ausserhalb der Zentrale. Das heisst, dass ich nahe bei den Leuten bin an Versammlungen, bei Sektionsbesuchen oder Aktionen. Ich bin überzeugt, meine Arbeit nur mit den Leuten zusammen machen zu können. So sehe ich die gewerkschaftliche Arbeit. Und ich will dies auch nicht ändern.
Du hast aber auch auf schweizerischer und europäischer Ebene viel Verantwortung übernommen…
Ich kann mich auf ein sehr gutes Team stützen, im Sekretariat wie in den Regionen, und teile meine Aufgaben mit den Kolleg/innen der Gewerkschaftsleitung. Mit guter Organisation der eigenen Arbeit geht das recht gut. Ich habe nicht das Gefühl, dass mich die Aufgaben auffressen. Ich bin kein Pöstchenjäger. Alle diese Engagements folgen einer bestimmten Logik. Das Vizepräsidium des SGB macht auch im Zusammenhang mit dem SEV Sinn, desgleichen der Vorsitz der Eisenbahnsektion der ETF und des Sozialdialogs im Bahnsektor. Für mich steht immer der SEV im Zentrum, aber die Situation in der Schweiz hängt von den Entwicklungen in Europa ab.
In diesem Jahr jährt sich der Generalstreik zum hundertsten Mal. Ist das nicht eine Gelegenheit für die Gewerkschaften, wieder den Schwung der Forderungen und des Zukunftsglaubens aufzunehmen?
Die Gründung des SEV im Jahr 1919, in der Folge des Generalstreiks, geschah aus der Einsicht heraus, dass eine bessere Koordinierung und Organisation Not tut. Es genügt nicht, sich an die Ereignisse vergangener Zeiten zu erinnern, man muss diesen Hauch auch auf gewerkschaftlicher Ebene in die heutige Zeit übersetzen. Und man muss sich wieder getrauen, Forderungen aufzustellen – etwa, was die Rentenfrage betrifft oder die Lohngleichheit zwischen Mann und Frau.
Gibt es einen Film oder ein Buch, die für dich sehr prägend sind?
Der Film «The Navigators» von Ken Loach, der 2002 herausgekommen ist, hat mich tief beeindruckt. Er zeigte die Folgen der Privatisierung von British Rail auf. Diesen Film könnte man im Rahmen der Hundertjahrfeier des SEV wieder zeigen, er ist leider immer noch aktuell.
Benützt du soziale Medien?
Ja, aber nicht «hyperaktiv». Insbesondere benütze ich Twitter – vor alllem als Leser – und Facebook. Die sozialen Netzwerke sind nützlich, um mit unseren Mitgliedern in Kontakt zu bleiben und die Jungen nicht zu verpassen. Gegenwärtig wird die digitale Kommunikationsstrategie des SEV erarbeitet. Das soll mehr Reaktion und Interaktion mit der Basis erlauben. Es ergänzt und erweitert die Kommunikation, die sich insbesondere auf die Website und die Zeitung stützt.
Yves Sancey/pan.
Bio
Giorgio Tuti ist 53-jährig und seit 2009 Präsident des SEV. Am Kongress 2017 wurde er für eine weitere Amtsperiode von vier Jahren gewählt. Zudem ist er Vizepräsident des SGB.
Am 9. März 2017 erfolgte Tutis Wahl zum Präsidenten der Eisenbahnsektion der Europäischen Transportarbeiterföderation (ETF). Am 1. Dezember 2017 hat er für die nächsten zwei Jahre die Leitung des europäischen Sozialdialogs der Eisenbahnbranche übernommen.
Dumping
Auf europäischer Ebene will der Sozialdialog, den du präsidierst, gegen Dumping vorgehen und für einen sicheren, sozialen Bahnverkehr sorgen. Wie?
In meiner ersten Verhandlungssitzung haben wir uns auf einen Arbeitsplan für die nächsten zwei Jahre geeinigt – zum ersten Mal seit drei Jahren. Das ist ein Schritt vorwärts! Zusammen mit meinen europäischen Kollegen haben wir festgestellt, dass freier Markt und Wettbewerb zu einer Prekarisierung der Arbeit und weniger Sicherheit im Verkehr führten. Wir müssen der Qualität und der Sicherheit unser Augenmerk widmen und jede Form von Dumping bekämpfen. Dafür sammeln wir jetzt Beispiele, die wir veröffentlichen und verurteilen werden.