Stillen am Arbeitsplatz
Eine Mutter kämpft für ihr Recht
Seit 2014 haben alle arbeitenden Mütter in der Schweiz Anrecht auf bezahlte Stillpausen am Arbeitsplatz. Doch die Genfer Verkehrsbetriebe TPG sträubten sich neulich noch gegen die Anwendung dieses Bundesrechtes.
Die junge Tramführerin Esperanza Muñoz wurde im August 2017 Mutter. Da sie nach der Wiederaufnahme der Arbeit weiter stillen wollte, erkundigte sie sich über ihre Rechte (siehe Box). Ihr Arzt bescheinigte, dass sie aus gesundheitlichen Gründen und im Interesse des Stillens während dessen Dauer vom Fahren zu dispensieren sei.* Als sie das Arztzeugnis im November dem Arbeitgeber vorlegte, antwortete der Rechtsdienst, dass die Bestimmungen des Arbeitsgesetzes zum Stillen für sie nicht gälten, da sie dem Arbeitszeitgesetz (AZG) unterstehe.
Sie suchte Rat beim SEV und einem Anwalt. Der verwies die TPG auf Artikel 17 des AZG, der klarstellt: «Für den Gesundheitsschutz, die Beschäftigung, die Ersatzarbeit und die Lohnfortzahlung bei Mutterschaft gelten die Bestimmungen des Arbeitsgesetzes (…).» Trotz der klaren Rechtslage und dem Arztzeugnis verlangten die TPG aber von der stillenden Mutter, ab 15. Januar wieder zu fahren. Also ging sie an diesem Tag in die Garage, damit man ihr nicht Fehlen am Arbeitsplatz vorwerfen konnte, jedoch in Zivilkleidung, da ihr das Arztzeugnis vom Fahren abriet. Dank der Unterstützung des SEV lenkten die TPG schliesslich ein, wiesen ihr bis auf Weiteres eine Büroarbeit zu und gestanden ihr täglich maximal 90 bezahlte Minuten zum Stillen ihres Sohnes zu. Aber ausdrücklich im Sinn einer Ausnahme. Bis heute wollten sich die TPG nicht definitiv festlegen, wie sie die rechtlichen Vorgaben zum Stillen und zur Ersatzarbeit für stillende Mütter generell umsetzen wollen.
Kein Sonderfall
Das genügt Esperanza Muñoz nicht, weil es bedeutet, dass man bei ihr eine Ausnahme gemacht und ihr einen besonderen Gefallen erwiesen habe. «Ich verlange einfach mein Recht! Wenn sie das Gesetz nicht anwenden wollen, dann sollen sie es mir schwarz auf weiss mitteilen.» Esperanza Muñoz ist es wichtig, dass die TPG die Rechte der stillenden Mütter offiziell anerkennen, damit alle Frauen, die nach ihr in die gleiche Lage kommen, nicht wieder den gleichen Kampf ausfechten müssen. Oder sie selber bei einem nächsten Kind.
Der Kampf mit den TPG ging für sie weiter, denn nachdem sie im Regionalfernsehen «Léman Bleu» ihre Situation geschildert hatte, erhielt sie im März eine Vorladung der Direktion. Weil sie von SEV-Kolleg/innen begleitet wurde, die ihr Spalier standen, liess man ihre Einvernahme schliesslich fallen. Auf all diese «Ehren» hätte sie gerne verzichtet. Doch für ihr gutes Recht will sie weiter kämpfen.
Diskriminierend und unwürdig
Warum wollen die TPG das Recht von Esperanza Muñoz nicht anerkennen? Gegenüber «Léman Bleu» wollten sie zu ihrem «Fall» nichts sagen und erklärten nur, «von Fall zu Fall in Übereinstimmung mit dem Bundesrecht» zu handeln.
Diese Haltung kann SEV-Gewerkschaftssekretärin Valérie Solano überhaupt nicht verstehen: «Das ist eine klare Diskriminierung! Die TPG müssen Rahmenbedingungen schaffen, welche Müttern das Stillen ihrer Kinder ermöglichen. Das Verhalten der TPG ist eines grossen öffentlichen Unternehmens unwürdig, ein solches sollte vorbildlich sein.»
Bei rund 1200 Angestellten im Fahrdienst, von denen etwa 100 Frauen sind, sollte es für die TPG kein Ding der Unmöglichkeit sein, Mütter während des Stillens vom Fahren zu dispensieren und ihnen Stillpausen zu ermöglichen. Seit 2014 haben bei den TPG gerade mal zehn Bus- und Tramfahrerinnen für das Stillen eine Dispensation vom Fahrdienst beantragt und erhalten.
Esperanza Muñoz hofft, dass es für die TPG und alle Verkehrsbetriebe bald selbstverständlich sein wird, Müttern die Rahmenbedingungen für das Stillen zu bieten, die das Gesetz vorsieht. Dazu hat Esperanza Muñoz einen wichtigen Beitrag geleistet, indem sie für ihr Recht kämpfte.
Yves Sancey/Fi
* Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, Säuglinge während sechs Monaten ausschliesslich und dann bis zum Alter von zwei Jahren teilweise an der Brust zu stillen. Denn sie haben so weniger Atemwegsinfektionen, Mittelohr- und Magen-Darm-Entzündungen. Stillende Mütter erholen sich schneller von der Geburt und haben ein tieferes Brustkrebsrisiko.
Das sagt das Gesetz
Artikel 35 des Arbeitsgesetzes verweist auf die Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz (ArGV 1), deren Artikel 60 lautet: «Stillenden Müttern sind die für das Stillen oder für das Abpumpen von Milch erforderlichen Zeiten freizugeben. (...) Davon wird im ersten Lebensjahr des Kindes als bezahlte Arbeitszeit angerechnet: a. bei einer täglichen Arbeitszeit von bis zu4 Stunden: mindestens 30 Minuten; b. (…) von mehr als 4 Stunden: mindestens 60 Minuten; c. (…) von mehr als 7 Stunden: mindestens 90 Minuten.»
Artikel 62 ArGV 1 hält fest: «Der Arbeitgeber darf schwangere Frauen und stillende Mütter zu gefährlichen und beschwerlichen Arbeiten nur beschäftigen, wenn auf Grund einer Risikobeurteilung feststeht, dass dabei keine konkrete gesundheitliche Belastung für Mutter und Kind vorliegt (…).» (Die TPG haben keine solche Risikobeurteilung vorgenommen, soviel dem SEV bekannt ist.)
Artikel 64 ArGV 1 führt weiter aus: «Schwangere Frauen und stillende Mütter sind auf ihr Verlangen von Arbeiten zu befreien, die für sie beschwerlich sind. (…) Der Arbeitgeber hat eine schwangere Frau oder eine stillende Mutter an einen für sie ungefährlichen und gleichwertigen Arbeitsplatz zu versetzen, wenn die Risikobeurteilung eine Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit von Mutter oder Kind ergibt und keine geeignete Schutzmassnahme getroffen werden kann (…).»
ysa/Fi
Kommentare
Betroffene 06/04/2018 14:19:11
Ich arbeite als Fahrdienstleiterin bei der SBB und bekam keine Stillpausen, als ich danach fragte und mir blieb also nichts anderes übrig, als während meiner 30 minütigen Essenspause abzupumpen. Ich musste jeweils direkt vor und nach der Schicht noch abpumpen, um nicht zu platzen!