Pilotversuch
Viertagewoche: Ein Mittel gegen den Fachkräftemangel?
Vier Tage pro Woche arbeiten und gleich viel verdienen wie heute für fünf Tage: Eine verrückte Utopie oder ein sinnvolles Arbeitsmodell? Der Unternehmensberater und Organisationsentwickler Veit Hailperin führt eine Studie zur Viertagewoche durch und erzählt, was hinter dieser Idee steckt.
«Zwei Dinge möchte ich klarstellen», sagt Veit Hailperin, «bei der Viertagewoche geht es nicht um Teilzeitarbeit, für die nur noch 80 % des Lohns bezahlt werden. Und es geht nicht um die Verteilung von 40 oder 42 Arbeitsstunden auf vier Tage. Nein, es geht um eine Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich und um eine Wochenarbeitszeit von weniger als 35 Stunden.» Seit mehreren Jahren beschäftigt er sich mit dem Projekt der Einführung der Viertagewoche in Betrieben. Aktuell sucht er Unternehmungen, die bereit sind, einen Pilotversuch mit einer Viertagewoche zu starten und diesen wissenschaftlich begleiten zu lassen. Die Berner Fachhochschule BFH und die Organisation «4 Day Week Global» erforschen verschiedene Aspekte, zum Beispiel wie sich die Viertagewoche auf das körperliche Wohlbefinden des Personals auswirkt oder wie sich die Produktivität einer Unternehmung bei reduzierter Arbeitszeit entwickelt.
Gesundheit und Vereinbarkeit
Kann eine Unternehmung genauso produktiv bleiben, wenn das Personal nur noch vier statt fünf Tage arbeitet? Reitet sie sich mit der Verkürzung der Arbeitszeit nicht direkt in den Abgrund? Führt die Viertagewoche zu mehr Stress? Das sind Fragen, die Veit Hailperin oft hört. Er antwortet darauf: «Es ist interessant zu sehen, dass viele Unternehmungen, die bereits die Wochenarbeitszeit verkürzt haben, genauso produktiv bleiben wie vorher. Einer der wichtigsten Gründe für dieses Phänomen ist die Gesundheit. Wer weniger arbeitet, lebt gesünder. Viele Unternehmungen kämpfen im Moment mit hohen Zahlen bei den Krankheitsausfällen. Wenn die Menschen gesünder bleiben, hat das nicht nur einen positiven Einfluss auf die einzelne Unternehmung, sondern auch auf die gesamte Volkswirtschaft. 6,5 Mia. Franken könnten laut einer Studie der Gesundheitsförderung Schweiz jährlich eingespart werden – und das ist konservativ geschätzt. Grundsätzlich kann man sagen, dass Arbeitsplätze attraktiver werden, wenn die Arbeitszeit sinkt. Die Work-Life-Balance, die Vereinbarkeit von Arbeits- und Privatleben verbessert sich, was ebenfalls einen positiven Einfluss auf die Produktivität haben kann. Wenn du genug Zeit hast, dich um deine Familie zu kümmern oder ein aufwändiges Hobby zu betreiben, zum Beispiel als Fussballcoach, bist du glücklicher – auch bei der Arbeit.» Hinzu kommt, dieses Arbeitszeitmodell kann einer Unternehmung viele Vorteile auf dem Arbeitsmarkt bringen. Gerade im Kampf gegen den Fachkräftemangel, können Unternehmungen mit einer Viertageswoche leichter gute Leute anlocken.
Erfolgreiche Versuche im Ausland
Bei Unternehmungen, bei denen die Arbeit vom Personal relativ frei eingeteilt werden kann, zum Beispiel in IT-Unternehmungen, zeigen internationale Studien tatsächlich Erfolge. In Island, wo zwei Feldstudien durchgeführt wurden, steigerte die Viertagewoche bei gleichbleibendem Lohn sogar die Produktivität der Unternehmungen. Gleichzeitig verbesserte sich das Wohlbefinden des Personals.
Aber es gibt auch Fragezeichen. Wie sieht es bei Unternehmungen aus, beispielsweise im öffentlichen Verkehr, bei denen die Arbeit nach strikten Zeitplänen läuft und nicht frei eingeteilt werden kann? «Ehrlich gesagt kann ich diese Frage noch nicht beantworten, weil ich keine konkreten Beispiele kenne», sagt Veit Hailperin. «Aber auch hier könnten vor allem die Fragen nach der Gesundheit und dem fehlenden Personal eine wichtige Rolle spielen. Hätten beispielsweise Busfahrerinnen und Lokführer weniger lange Schichten, würden sie weniger krank. Auch würde der Job attraktiver. Am Schluss kann ich mir gut vorstellen, dass auch öV-Unternehmungen profitieren. Bei touristischen Verkehrsunternehmungen, wo es grosse saisonale Unterschiede gibt, könnte ein Modell mit reduzierter Arbeitszeit ebenfalls gut funktionieren. Die Viertagewoche kann nämlich auch auf die Jahresarbeitszeit hochgerechnet werden. Dann arbeitet das Personal in der Hochsaison fünf Tage und in der Nebensaison nur noch drei. Im Gastro-Bereich, wo ja ähnliche Verhältnisse herrschen, gab es sehr erfolgreiche Versuche.»
Bei der Studie, die Veit Hailperin gemeinsam mit seinen Partnern durchführt, sind Unternehmungen aus verschiedensten Branchen dabei. Dazu gehören neben Dienstleistungsunternehmen auch gewerbliche und industrielle Betriebe. «Ich bin zum Beispiel in engem Kontakt mit einer Ofenbaufirma. Es gibt aber auch Unternehmungen, die das nicht erst jetzt machen. Eine Schweizer Unternehmung, die industriell Nägel herstellt, hat die Viertagewoche schon vor acht Jahren eingeführt und würde heute nicht mehr zur Fünftagewoche zurückkehren. Natürlich ist es möglich, dass nicht alle Unternehmungen nur positive Erfahrungen machen. Es darf nicht sein, dass das Personal mehr Stress hat, weil es in weniger Zeit mehr Arbeit leisten muss. Selbstverständlich ist es möglich, dass Unternehmungen nach der Pilotphase wieder zur Fünftagewoche zurückkehren.»
Ein neues gewerkschaftliches Ziel?
Aus gewerkschaftlicher Sicht ist klar, die Viertagewoche bei gleichem Lohn muss zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen für das Personal führen. Die Gewerkschaft Unia begleitet denn auch das Pilotprojekt von Veit Hailperin. «Es ist gut, dass auch eine Gewerkschaft mit an Bord ist», sagt der Unternehmensberater und Organisationsentwickler. «Historisch gesehen waren es neben den Unternehmen, die die Vorteile einer verkürzten Arbeitszeit für sich erkannt haben, die Gewerkschaften, die erfolgreich für eine Arbeitszeitreduktion von damals 60 oder mehr Arbeitsstunden gekämpft haben. Dass man die Wochenarbeitszeit auf fünf Tage und 40 bis 42 Stunden verringern konnte, wurde früher auch einmal als utopisch angesehen. Oder die Frage der Ferien: Dass es heute normal ist, dass man vier bis sechs Wochen Ferien pro Jahr hat, war bis vor wenigen Jahrzehnten nicht vorstellbar. Und wie wir heute wissen, profitiert nicht nur das Personal von diesen Regelungen, sondern die ganze Wirtschaft.»
Mehr Infos zur Studie und auch die Möglichkeit, ein Projekt anzumelden und mitzumachen, gibt es auf der Webseite www.hailperin.ch/4tagewoche
Michael Spahr
michael.spahr@sev- online.ch