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Finanzhilfe

«Der öV ist das Rückgrat der Mobilität in der Schweiz»

Die Unternehmen des öffentlichen Verkehrs sind – unter vielen anderen – sehr stark von der Coronakrise betroffen. Insbesondere während dem Lockdown, als der Bundesrat dazu aufrief, zu Hause zu bleiben und den öV zu meiden, verzeichneten viele von ihnen hohe Verluste. Aber nach wie vor sind die Verkehrsmittel nicht ausgelastet, was sich nun durch die zweite Welle wohl wieder verschärfen dürfte. Der Bund hat Handlungsbedarf erkannt und ein Bundesgesetz über die Unterstützung des öffentlichen Verkehrs erlassen. Für den SEV nicht genug. Daniela Lehmann, Koordinatorin Verkehrspolitik beim SEV, erklärt die Hintergründe.

Daniela, das Parlament hat in der Herbstsession ein Gesetz zur finanziellen Unterstützung des öV verabschiedet. Nun fordert der SEV in einem Brief an den Bundesrat noch mehr Geld. Wieso reicht das Gesetz nicht?

Im Bundesgesetz über die Unterstützung des öffentlichen Verkehrs wurden erstens nicht alle Sparten berücksichtigt. So erhält der Fernverkehr nach wie vor kein Geld. Der Minderheitsantrag von unserer Kollegin Edith Graf-Litscher, der diesen Umstand korrigieren wollte, wurde leider abgelehnt.

Zweitens wurden die Unterstützungsgelder für den Regionalen Personenverkehr (RPV) ausgehend von einem Verlust von rund 35% in diesem Jahr gesprochen. Mit dem erneuten Aufruf zu mehr Homeoffice und möglicherweise mit noch weitergehenden Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus könnten die Verluste aber noch höher ausfallen. Grundsätzlich sollten aus unserer Sicht die gesamten Defizite der Unternehmen gedeckt werden.

Den Unternehmen des RPV wurde zugesichert, dass sie ihre Offerten fürs 2021 noch einmal überarbeiten dürfen und damit mehr Abgeltungen geltend machen können. Damit ist zumindest fürs nächste Jahr eine gewisse Sicherheit vorhanden. Für das laufende Jahr bleibt aber eine Unsicherheit.

Was erhofft sich der SEV von diesem Brief?

Wir möchten erreichen, dass der Bundesrat ein Signal sendet und den Unternehmen die Sicherheit vermittelt, dass sie nicht auf ihren Defiziten von 2020 sitzen bleiben. Umso wichtiger ist dies, weil aktuell die Lohnverhandlungen fürs nächste Jahr stattfinden und die Unternehmen konkret überlegen müssen, wie ihr Geschäft im 2021 weitergehen wird. Bei grossen Unsicherheiten leidet erfahrungsgemäss insbesondere das Personal. Dort zu sparen wäre aber definitiv der falsche Weg.

Und wir hoffen, dass der Bundesrat und das Parlament noch einmal auf den Entscheid bezüglich Fernverkehr zurückkommen. Aktuell sehe ich zwar keine Anzeichen dafür, dass der Fernverkehr doch noch finanzielle Unterstützung erhalten wird. Aber wenn sich die Covid-19-Situation weiter verschärft, könnte es vielleicht doch noch zu einem Kurswechsel kommen. Die Notlage wird jedenfalls auch im Fernverkehr grösser. Die SBB hat bereits Sparmassnahmen eingeleitet.

Auch finanziell unterstützte Unternehmen wollen beim Personal sparen. Braucht es da nicht Auflagen?

Der Widerstand, Unterstützungsgelder an Bedingungen zu knüpfen, war gross, wie wir beim Flugverkehr sehen konnten. Der SEV hätte die Gelder für den Flugverkehr gerne an eine GAV-Pflicht und ein Entlassungsverbot während der Unterstützungsphase geknüpft. Mit dieser Forderung waren wir aber chancenlos.

Für den SEV ist aber natürlich klar, dass er nicht tatenlos zusehen wird, wenn die Unternehmen, die – nicht zuletzt auch dank dem politischen Einsatz des SEV – finanzielle Unterstützung erhalten, bei den Anstellungsbedingungen sparen wollen. Die SEV-Gewerkschaftssekretäre werden bei den anstehenden Lohnverhandlungen ganz genau hinschauen.

Hand aufs Herz: Andere Branchen stehen aktuell viel schlechter da als der öffentliche Verkehr. Wieso soll ausgerechnet er noch mehr unterstützt werden?

Einzelne Branchen gegeneinander auszuspielen, bringt uns nicht weiter. Der SEV setzt sich für den öffentlichen Verkehr ein, weil dieser für das gesellschaftliche Funktionieren und die wirtschaftliche Entwicklung immens wichtig ist. Man hat es auch im Lockdown gesehen: Der öV ist systemrelevant und muss auch in der Krise funktionieren. Er ist das Rückgrat der Mobilität in der Schweiz.

Und nicht zu vergessen ist auch die Klimadebatte. Der Verkehr ist einer der grossen Energieverbraucher. Der öffentliche Verkehr steht hier allerdings sehr viel besser da als der motorisierte Individualverkehr: Er hat aktuell rund 20% Anteil am gesamten Verkehrsvolumen in der Schweiz, verbraucht aber weniger als 5% an Energie. Unsere Klimaziele können wir nur erreichen, wenn wir im Verkehr den Modalsplit zugunsten des öV verlagern können. Der öffentliche Verkehr muss massiv ausgebaut werden. Gerade auch deshalb ist es umso wichtiger, dass er aktuell unterstützt und der zukünftige Ausbau nicht gebremst wird.

Und wieso setzt sich der SEV als Gewerkschaft für einen neuen Modalsplit ein?

Der SEV ist gerade dabei, seine gewerkschaftlichen Forderungen bezüglich Modalsplit zu formulieren. Das heisst: Es braucht genügend Personal, denn dieses trägt nachweislich zur Attraktivität des öV bei, so zum Beispiel zum subjektiven Sicherheitsempfinden. Wird der öffentliche Verkehr ausgebaut, müssen die Unternehmen qualifiziertes Personal ausbauen, was nur über attraktive Anstellungsbedingungen geht.

In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass die Verkehrsunternehmen wegen der demografischen Entwicklung vor grossen Herausforderungen stehen. Bei der SBB beispielsweise werden bis 2035 rund 40% der heutigen Mitarbeitenden pensioniert werden. Der heutige Fachkräftemangel wird sich damit künftig noch verschärfen.

Fragen: Chantal Fischer
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