SBB Fernverkehr
Im Zug immer zu zweit!
Die SBB muss im Fernverkehr wieder die konsequente Doppelbegleitung einführen, die sie Ende 2018 abgeschafft hat. Dies fordert das im SEV-ZPV organisierte Zugpersonal in einer Resolution, die es am 4. Dezember an Linus Looser, Leiter Bahnproduktion, und Reto Liechti, Leiter Kundenbegleitung und Cleaning (KBC), übergab.
Die Resolution verabschiedete am 5. November eine Versammlung des Unterverbands ZPV in Bellinzona, nachdem in diesem Herbst an allen ZPV-Regionalversammlungen die Ende 2018 erfolgte Abschaffung der konsequenten Doppelbegleitung und deren Folgen für das Personal Hauptthema gewesen waren.
«Die Abschaffung des Prinzips, dass alle Fernverkehrszüge grundsätzlich von einem Zweierteam begleitet werden sollen, war ein Fehler», erklärt ZPV-Zentralpräsident Andreas Menet. «Denn die Doppelbegleitung hat sich in den zehn Jahren ihrer Existenz bewährt. Sie war ein wichtiger Beitrag zur Sicherheit von Passagieren und Personal. Und sie erlaubte es uns Kundenbegleiterinnen und Kundenbegleitern, den Reisenden den bestmöglichen Kundendienst zu bieten, als ‹Gesicht der SBB›. Als Auskunftspersonen gibt es bei der Bahn ja bald nur noch uns, weil im Zuge der Automatisierung und Digitalisierung immer mehr Personal verschwindet. Ein guter Kundenservice ist für uns aber unmöglich, wenn wir alleine in einem langen Zug, womöglich gar einer Doppelkomposition, hunderte von Reisenden betreuen müssen. Ganz zu schweigen bei Störungen oder gar bei einer Evakuation in einem Tunnel bei einem Zugbrand…» (Siehe Box)
Die Resolution verweist denn auch speziell auf die Gotthardachse mit dem längsten Bahntunnel der Welt, wo die Züge zudem oft überfüllt und von Störungen betroffen sind.
Aus all diesen Gründen fordern der SEV und sein Unterverband des Zugpersonals ZPV von der SBB, dass die Doppelbegleitung wieder auf allen Zügen des Fernverkehrs eingeführt wird.
Reale Beispiele
Bei der Resolutionsübergabe zeigte die SEV-ZPV-Delegation an Beispielen auf, wohin die Einerbegleitung führen kann:
«Diesen Sommer fiel im Bahnhof Visp ein Mann unter einen Zug. Ein Kundenbegleiter sah dies und konnte den Mann mit Hilfe des Lokführers wieder hervorholen. Was wäre passiert, wenn der Vorfall unbemerkt geblieben wäre?» fragte SEV-Gewerkschaftssekretär Jürg Hurni die beiden SBB-Chefs.
«Bahnhof Genf Flughafen, ein ICN fährt ein, hält an und es steigen Reisende aus und ein», beschrieb Jürg Hurni einen zweiten Fall. «Eine Frau lässt beim Einsteigen ihre Koffer fallen, diese fallen unter den Zug. Die Frau steigt den Koffern nach, gleichzeitig nähert sich auf demselben Gleis eine zweite ICN-Komposition zum Kuppeln mit dem anderen ICN. Ein Kundenbegleiter hat die Frau gesehen und holt sie heraus, bevor der zweite Zug an den ersten ankuppelt. Was wäre passiert, wenn kein Kundenbegleiter in der Nähe gewesen wäre?»
«Letzten Samstag begleitete ich einen neun- oder zehnteiligen Doppelstockzug (Dosto) allein nach Romanshorn», erzählte Irène Bula, Chefin Kundenbegleitung (CKB). «Für den Rückweg hängten sie mir vorne noch ein fünfteiliges Modul an. Ich bin dann durch den Zug gegangen bis Amriswil, und als ich dort den Zug abfertigte, rief mich die Kollegin vom Speisewagen an: Du musst sofort kommen, es ist einer umgefallen, er hat den Fuss gebrochen, wir müssen die Ambulanz haben! Ich machte sofort die Durchsage, dass wir in Frauenfeld stehen bleiben würden bis zum Eintreffen der Ambulanz und dass so bald wie möglich weitere Informationen folgen würden. In Frauenfeld musste ich den Sanitätern helfen, denn der Mann war aggressiv, er hatte wohl Drogen genommen. So konnte ich halt keine Durchsage mehr machen. Irgendwann fiel dann der Entscheid, den Zug ausfallen zu lassen, und ich habe die Reisenden informiert, dass sie umsteigen sollten. Zum Glück musste ich die Durchsagen nur auf Deutsch machen und nicht auch noch auf Französisch und Englisch wie in der Romandie: Das ist dann wirklich nicht mehr lustig, wenn man alles allein machen muss…»
«Wenn wir am Morgen um halb neun nach Genf fahren, haben wir auch allein 14 oder 15 Wagen, davon 10 Dosto, und zurück 13 Wagen», fuhr Irène Bula fort. «Wenn man nur durchläuft, hört man hintendran immer wieder: ‹Die ist zu faul zum Kontrollieren.› Und wenn man Kontrolle macht, kommt man vielleicht durch fünf Wagen, und den Rest hat man nicht gesehen. Es ist einfach nicht befriedigend. Ich habe 30 Dienstjahre, ich habe alles erlebt, doch es ist einfach so: Man ist nicht mehr so motiviert, wenn man ins Sopre schaut und sieht, ich bin dann allein. Darum schaue ich lieber gar nicht mehr, wenn ich frei habe…»
«Ich war allein auf dem Zug von Romanshorn retour, als ein Kunde aggressiv wurde und auf mich losgehen wollte», erzählte Yasmin Furrer. «Allein hatte ich gegen den betrunkenen Mann keine Chance und ich rief die Polizei, die ihn in Winterthur aus dem Zug holte. Doch wenn so etwas passiert, ist die Angst zuerst immer noch da, vor allem, wenn man allein ist. Ich fühlte mich bis Zürich nicht mehr sicher und war sehr froh, dass ab Zürich ein zweiter Zugbegleiter auf den Zug kam.»
Im «Sonntagsblick» vom 8. Dezember schilderte ein Kundenbegleiter, wie er bei einem überfüllten Elf-Wagen-Zug kurz vor der Abfahrt allein herausfinden musste, ob der beim Lokführer angezeigte Feueralarm echt war oder ein Fehlalarm. Wie er – durch den Zug schreitend – bei der Betriebszentrale anrief, damit sie das grüne Abfahrtssignal zurücknahm, während er ständig von Passagieren gefragt wurde: «Warum fahren wir nicht ab?» Denn für die Durchsage hatte er keine Zeit. Zugleich musste er Leute informieren, die auch noch einsteigen wollten. Nach fünf Minuten konnte er melden: Der Feueralarm war ein Fehlalarm. Doch nun antwortete die Zentrale, es gebe keinen Slot mehr, der Zug werde gestrichen. «Der Vorfall zeigt: Alleine im Zug bin ich aufgeschmissen, wenn es zu einer Störung kommt», folgerte der Kollege. «Wären wir in dieser Situation zu zweit gewesen, hätten wir die Kunden besser informieren können. Wir hätten schneller festgestellt, dass es sich um einen Fehlalarm handelte – und im Optimalfall hätte der Zug nicht gestrichen werden müssen.»
Markus Fischer
Im Tunnel immer zu zweit!
Am 11. April 2006 fährt ein Cisalpino-Zug in den modernen Zimmerbergtunnel in der Nähe von Zürich ein. Mitten im Tunnel bleibt die Komposition stehen. Ein Kurzschluss löst einen Brand aus, in einigen Wagen entwickelt sich Rauch. Die Passagiere müssen sofort evakuiert werden. Die automatischen Türen bleiben geschlossen, obwohl der Lokführer ihre Öffnung ausgelöst hat. Er hat keine Möglichkeit, die Leute zu warnen, denn die Lautsprecher im Zug funktionieren nicht. Rasch öffnen zwei Zugbegleiter die Türen jedes einzelnen Wagens von Hand, lassen die Leute aussteigen und bringen sie zu den Notausgängen. Alle sind gerettet – dank der schnellen Reaktion des Personals. Ein Zugbegleiter alleine hätte die Situation nicht bewältigen können.
Nach diesem Ereignis forderten der SEV und sein Unterverband des Zugpersonals ZPV die Zweierbegleitung für alle Züge, die durch lange Tunnels fahren. Die Kampagne «Im Tunnel immer zu zweit» entstand. Es folgten Resolutionen aus nationalen und internationalen Versammlungen, diverse Schriften, politische Interventionen auf verschiedenen Stufen, u.a. beim Bundesamt für Verkehr, und verschiedene Mobilisierungen. Ein Jahr nach dem Unfall im Tunnel lag der Bericht der Unfalluntersuchungsstelle vor. Dieser enthielt eine Empfehlung: Die Zahl der Zugbegleiter/innen auf Fahrten durch lange Tunnels soll überprüft werden.
Im Januar 2009 reagierte die SBB endlich auf die Forderung der Doppelbegleitung, unter anderem auch aufgrund der traurigen Realität der zunehmenden Aggressionen gegen das Zugpersonal.
Doch 2018 schaffte die SBB die Doppelbegleitung mit einem Federstrich wieder ab. SEV und ZPV begannen das Thema sofort wieder zu diskutieren.
Wir erinnern einmal mehr daran, dass man punkto Sicherheit nicht nur auf Zement und Technik setzen darf. Der Faktor Mensch bleibt weiterhin zentral. Wenn an jenem Tag, als im Zimmerbergtunnel die Technik ausfiel und Lautsprecher sowie Türen nicht mehr funktionierten, keine zwei Zugbegleiter anwesend gewesen wären, wäre der Zwischenfall wohl nicht so glimpflich ausgegangen. Der Beweis ist uns zum Glück erspart geblieben…
Heute ist die Forderung nach der Doppelbegleitung wieder aktuell, doch es ist keine neue Forderung. Es ist die Aufgabe der Gewerkschaft, diese legitime und vernünftige Forderung wieder anzubringen.
In letzter Zeit lief bei der SBB bezüglich Kundenservice einiges schief. Das Unternehmen hat angekündigt, auf die Kritikpunkte eingehen zu wollen. Die einzig richtige Antwort ist, wieder mehr Personal einzuführen und nicht mehr ständig neue, aufreibende Reorganisationen zu lancieren. Die Wiedereinführung der Doppelbegleitung wäre ein erster konkreter Schritt in die richtige Richtung.
Angelo Stroppini, Gewerkschaftssekretär SEV