Kleine Chronik des täglichen Einsatzes des SBB-Personals
Ausserordentliche Normalität
Ein Felssturz hat die Gotthardlinie für einen Monat oder länger unterbrochen. Damit ist die Hauptverbindung zwischen Tessin und Deutschschweiz gekappt; auch ausländische Reisende sind betroffen. Doch die Verbindungen sind trotzdem gewährleistet, wie wir vor Ort feststellen konnten.
In Bellinzona trifft auf Gleis 1 ein ICN ein. Daraus strömen mehrere Hundert Personen mit Koffern, Kinderwagen und dem ganzen Rest. Angeleitet durch Lautsprecherdurchsagen steigen sie innert weniger Minuten in den Interregio um, der die Tessiner Hauptstadt mit nur wenig Verspätung auf die ordentliche Abfahrtszeit von 13.06 verlässt. Auf dem Zug zählen zwei junge Zugbegleiter die Reisenden, während über die Lautsprecher die schon in Bellinzona gehörten Informationen wiederholt werden: Streckenunterbruch, Zug verkehrt nur bis Göschenen, Umsteigen auf Ersatzbusse nach Flüelen. Einige Reisende haben noch Fragen und ein paar (wenige) beklagen sich, aber Besonderes gibt es nicht zu vermelden.
Züge wenden in Göschenen und Flüelen
Zuvor hat uns Emilio Grossi, Assistent der Zugpersonalregion, erklärt, wie sich der Streckenunterbruch auf die Dienstpläne der Zugbegleiter/ innen auswirkt. Das Tessiner Zugpersonal fährt bis Göschenen, hilft den Reisenden beim Umsteigen auf die Busse und begleitet danach wieder Züge Richtung Süden. Im Norden tun ihre Deutschschweizer Kolleginnen/Kollegen in Flüelen dasselbe.
In Göschenen steigen alle aus. Die Station ist nicht für solche Situationen ausgelegt und hat steile Treppen, die für Kinder- und Gepäckwagen trotz Metallrampen nicht leicht überwindbar sind. Aber mithilfe der SBBPersonalverstärkung vor Ort geht alles ordentlich und schnell. Zwölf Minuten nach Ankunft des Zuges verlässt der siebte Bus mit den letzten umgestiegenen Passagieren den Bahnhofplatz.
Der Bergsturz und die zweite Röhre
Voraussichtlich nächste Woche wird der Bundesrat seine Haltung zu einer allfälligen zweiten Strassenröhre am Gotthard bekannt geben. Aussagen von Wirtschaftsminister Schneider- Ammann haben die Anhänger eines Autobahnausbaus erfreut. Sie halten sich nicht mehr zurück und nutzen jede Gelegenheit, um ihre Forderungen zu platzieren.
So wird für sie sogar der Bergsturz zu einem Beweis, wie dringend nötig die Verdoppelung der Gotthardautobahn sei. Wobei sie sonst keine Gelegenheit auslassen, um zu betonen, dass die Verdoppelung auf keinen Fall die Kapazität der Autobahn erhöhen würde.
Wie sollte dann aber der Tunnelbau dazu beitragen, dass der Schwerverkehr nach dem Unterbruch der Bahnlinie bewältigt werden könnte?
Sie scheinen auch zu vergessen, dass 2006 ein anderer Bergsturz, ziemlich genau visà- vis des jetzigen, die Autobahn praktisch für den ganzen Juni blockiert hatte. Würde man nun den Strassentunnel verdoppeln, hätte dies zu einer bedeutenden Verbesserung der … Luftzirkulation geführt.
Wenn es also einen Tunnel wirklich braucht, ist es jener, der ab 2016 die Belastungen der Verkehrswege in der Gotthardregion drastisch verringern wird. Es wird darum gehen, ihn bestmöglich zu nutzen, indem man so viel Güter wie möglich auf die Schienen verlagert.
Gi / pmo
Die Busfahrt dauert nur etwa 20 Minuten. Von der Autobahn aus sieht man auf der anderen Talseite die Stelle, wo der Steinschlag die Linie unterbrochen hat. Man denkt an den armen Kollegen, dessen Leichnam erst drei Tage später geborgen werden konnte, und fragt sich, was geschehen wäre, wenn genau in jenem Moment ein Zug vorbeigefahren wäre.
Sondereinsatz
In Flüelen ist die Situation auf den ersten Blick etwas konfuser, doch binnen Kurzem gelangen alle durch die Unterführung zum Interregio, der auf Gleis 3 wartet, unterstützt von einer Gruppe von Kundenlenkern und Helfern der SBB.
In die Augen sticht die orange LPV-Warnweste eines Kollegen, der die Koffer aus dem Bauch des Busses lädt. Kurt Rickenbacher ist Cargo- Lokführer in Erstfeld, der wegen des Linienunterbruchs zurzeit nicht fahren kann. Deshalb freute er sich, als ihn sein Einteiler anrief und fragte, ob er in Flüelen als Kundenlenker einspringen könne. «Ich nahm die sauberste Warnweste mit, die ich habe – getragen erst bei einer Demo in Bern», erklärt er.
«Mir gefiel die Idee, mich mal in einer ganz anderen Funktion nützlich zu machen, mit Kontakt zu vielen Menschen unterschiedlichster Sprache. Das ist für mich ungewohnt und eine intensive Erfahrung. Es gibt Menschen, die reklamieren, aber viele bedanken sich für unsere Dienstleistung.»
In der Zwischenzeit sind alle Reisenden aus den sieben Bussen in den Interregio umgestiegen, und dieser verlässt Flüelen mit nur sieben Minuten Verspätung. Wer den Interregio mit Abfahrt um 13.06 in Bellinzona nehmen wollte, ist somit fast fahrplanmässig unterwegs.
«Das ist eine gute Leistung », findet Patrick Padlina, Zugchef im Depot Bern, der wegen des Streckenunterbruchs ebenfalls als Kundenlenker zum Einsatz kommt. Er trifft sich mit den Kollegen zu einem kurzen Briefing und begibt sich dann zum Zug, der aus dem Norden einfährt, mit zwei Reisegruppen und vielen Familien an Bord. Nun beginnt die ganze Prozedur in umgekehrter Richtung wieder von vorn, wohlgeordnet, effizient und mit einer Prise Humor.
Einmal mehr erweist sich das SBB-Personal als hilfsbereit, kompetent und flexibel wie immer. Man könnte von ausserordentlicher Normalität sprechen.
Bewährtes System
Damit stellt das Schweizer öV-System unter Beweis, dass es sich ohne grosse Probleme an die Gegebenheiten anpassen kann. Anderes bekommt man dagegen in Chiasso zu sehen, wo die Reisenden erneut umsteigen müssen, weil es keine direkten Züge vom Tessin nach Mailand gibt. Die dafür benötigte Zeit und der instabile Fahrplan südlich von Chiasso machen es schwierig, die Anschlüsse in Mailand zu garantieren. Darauf aber sind die Reisenden in Italien angewiesen, damit sie ihre Fahrkarten nutzen können. «Wir haben in Chiasso grössere Probleme als am Gotthard», bestätigt man uns am Schalter von Bellinzona. Auch das ist leider Normalität.
Pietro Gianolli / Fi