Interview mit Eugenio Tura
Europawahlen 2024: «Den Rechtsrutsch verhindern!»
Vom 6. bis am 9. Juni wählt Europa ein neues Parlament. Auch EU-Bürgerinnen und -Bürger, die in der Schweiz leben, dürfen an den Wahlen teilnehmen. Ein Gespräch mit Eugenio Tura, Vertreter der Migrationskommission im SEV-Vorstand und italienisch-schweizerischer Doppelbürger.
Was machst du Anfang Juni 2024?
Am 7. Juni haben wir Vorstandssitzung des SEV und gleich danach nehme ich den Flieger nach Sizilien, damit ich dort in meinem Heimatdorf wählen kann. Denn es ist enorm wichtig, dass auch wir Auslandsitaliener wählen gehen. Da die Schweiz nicht EU-Mitglied ist, können wir leider nicht brieflich abstimmen und müssen vor Ort an die Urne.
Ungefähr jedes zehnte SEV-Mitglied ist Bürger oder Bürgerin eines EU-Landes. Warum ist es deiner Meinung so wichtig, dieses Bürgerrecht wahrzunehmen und an diesen Wahlen teilzunehmen? Oder was motiviert dich, wegen diesen Wahlen die Reise nach Sizilien auf dich zu nehmen?
Aus meiner Sicht vergrössern wir so die Chance, dass die aktuelle Regierung in Italien nicht so hoch bei den Europawahlen gewinnt. Die aktuellen Prognosen deuten darauf hin, dass die Parteien der aktuellen Rechtsaussen-Regierung bei diesen Wahlen gewinnen werden. Mir ist es wichtig, dass wir da Gegensteuer geben. Wenn Italien auch bei diesen Wahlen mehrheitlich die Rechten wählt, sendet das ein schlechtes Zeichen nach Europa.
Die Regierung unter Giorgia Meloni besteht vor allem aus Mitgliedern der drei rechten Parteien Forza Italia, Lega und ihrer eigenen Partei Fratelli d’Italia. Letztere gelten als postfaschistisch, also extrem rechts. Meloni regiert Italien seit 2022. Was stört dich an dieser Regierung aus gewerkschaftlicher Sicht?
Meloni steht mit ihrer Regierung für eine Politik, welche die Reichen bevorzugt und die Armen benachteiligt. Die Rechten geben zwar vor, dass sie sich für die einfachen Bürgerinnen und Bürger einsetzen. Aber in Wirklichkeit ist genau das Gegenteil der Fall. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Arbeitslosigkeit. Die Rechten behaupten, die Arbeitslosen seien selber schuld an ihrer Situation, weil sie faul seien. Sie wollen die Menschen dazu zwingen, Jobs anzunehmen, bei denen sie nur 5 Euro pro Stunde verdienen. Die Regierung hat komplett den Realitätssinn verloren. Sie selber verdienen 15 bis 20 000 Euro im Monat und haben keine Ahnung, wie es auf dem ausgetrockneten Arbeitsmarkt aussieht. Letzten Herbst, als sich die Gewerkschaften gegen die Politik der Regierung mit einem grossen Streik wehrten, wurden sie von der Regierung bedroht. Der rechtspopulistische Lega-Politiker Matteo Salvini, der auch stellvertretender Ministerpräsident von Meloni ist, hat angedroht, das Recht auf Streik und somit die gewerkschaftliche Arbeit einzuschränken. Aus gewerkschaftlicher Sicht darf keine einzige Stimme an eine dieser drei Parteien gehen.
In Finnland, wo ähnlich wie in Italien, eine rechte Regierung mit zum Teil rechtsextremen Parteien an der Macht ist, werden auch Gewerkschaftsrechte eingeschränkt. Zudem findet ein Abbau des Sozialstaats statt. Der SEV hat eine Protestnote gegen diese Politik bei der finnischen Botschaft eingereicht. Es handelt sich also nicht bloss um ein italienisches Phänomen.
Genau. Und deshalb ist es wichtig, dass wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die einen EU-Pass haben, Anfang Juni unser Wahlrecht wahrnehmen und den drohenden Rechtsrutsch in Europa verhindern. In Italien sieht man, was passiert, wenn die Rechten an er Macht sind. Sie geben den Leuten das Gefühl, dass sie etwas Neues machen, das der ganzen Bevölkerung dient. Tatsächlich aber stehen sie für autoritäre Ideen und eine Politik, die vor allem den Reichen dient, also alles andere als eine neuartige Politik. Meloni, die sich als frisch und unverbraucht verkauft, gehört in Wirklichkeit schon lange zum Establishment, war unter Berlusconi schon vor fünfzehn Jahren Ministerin. Hinzu kommt, dass viele dieser rechtspopulistischen Parteien eine neoliberale Wirtschaftspolitik betreiben. Das heisst, sie fördern Privatisierung und Liberalisierung und bekämpfen den Service public.
Das bedeutet also, auch aus verkehrspolitischer Sicht sind die Rechten nicht wirklich auf unserer Seite. Wie siehst du das?
Auch da ist Italien das beste Beispiel, also eigentlich ein schlechtes Beispiel. Warum fliege ich nach Sizilien und fahre nicht mit dem öffentlichen Verkehr? Weil ich dann möglicherweise den Wahltermin verpassen würde (lacht). Wenn du in Sizilien von der einen Seite der Insel mit dem Zug auf die andere Seite der Insel gelangen willst, dauert es etwa gleich lange, wie wenn du von hier nach Thailand fliegst. Im regionalen öffentlichen Verkehr funktioniert in Italien vieles nicht. Natürlich gibt es in Italien tolle Verbindungen mit den Hochgeschwindigkeitszügen. Wenn du von Mailand nach Rom fährst, funktioniert die Bahn wunderbar. Da leisten die Staatsbahnen und auch die private Konkurrenz gute Arbeit. Aber wenn du in Kalabrien oder in Sizilien unterwegs bist, also dort, wo man keine grossen Profite machen kann, dann erlebst du eine Bahnwelt aus dem letzten Jahrtausend. Dort fährt die Bahn immer noch zum grossen Teil einspurig.
Das ist übrigens auch ein gutes Beispiel für typisch rechte Politik. Sie verspricht lauthals, prestigeträchtige Projekte auf die Beine zu stellen. Vorne glänzt und funkelt es. Dahinter sieht es jedoch düster aus. Die Rechte hat in Italien ein altes Projekt aus der Mottenkiste geholt, nämlich eine Brücke vom Festland auf die Insel Sizilien zu bauen – für Autos und für die Bahn. Aber auf beiden Seiten sind die Schienen in einem jämmerlichen Zustand. Die Infrastruktur ist nicht vorhanden, die nötig wäre, damit diese Brücke auch Sinn machen würde. Es ist, als ob man mitten in die Wüste eine prachtvolle Pyramide setzen würde.
Bei den EU-Wahlen droht nicht nur in Italien ein Rechtsrutsch, sondern auch anderswo. Die AfD in Deutschland, das Rassemblement National in Frankreich und andere rechtsextreme Parteien könnten gewinnen. Für Gewerkschaften, für eine ökologische und soziale Politik in Europa könnte es schwierig werden.
Geht wählen! Das ist das Einzige, was wir tun können. Was in Italien passiert, darf in Europa nicht auch passieren. Das müssen wir mit unserer Stimme verhindern.
Michael Spahr