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Die Europäische Menschenrechtskonvention ist bedroht

«Wir haben sehr viel zu verlieren»

Nesa Zimmermann ist als unabhängige Fachperson Mitglied der «Arbeitsgruppe Dialog EMRK». Die Juristin arbeitet gegenwärtig an ihrem Doktorat über den Schutz gefährdeter Personen (Kinder, Betagte, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung und Angehörige von Minderheiten). Sie weiss, was eine Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie sie die SVP fordert, bedeuten würde.

Nesa Zimmermann ist Juristin und spezialisiert auf die Menschenrechte. Sie verteidigt die EMRK als unverzichtbares Instrument für den Schutz der Minderheiten.

kontakt.sev: Die Europäische Menschenrechtskonvention ist nicht die exakte europäische Version der weltweit gültigen Erklärung der Menschenrechte. Worin besteht der Unterschied?

Nesa Zimmermann: Die Menschenrechtskonvention (EMRK) ist ein zwingendes Instrument, im Gegensatz zur weltweit gültigen Deklaration. Ihr Ziel ist, die zivilen und politischen Rechte der Bürger der 47 Staaten, die sie unterzeichnet haben, zu schützen. Es war die erste Instanz, bei der die Individuen Klagen gegen ihren Staat einreichen konnten! Sie schützt insbesondere die Meinungsäusserungsfreiheit, die Glaubensfreiheit, das Recht auf Privatsphäre, sie schützt auch gegen Folter und gegen Sklaverei usw.

Die EMRK wurde von der Schweiz vor 40 Jahren ratifiziert. Warum wollen sie gewisse Kreise jetzt kündigen?

Zuerst muss man festhalten, dass die Konvention schon bei ihrer Unterzeichnung Ängste ausgelöst hatte, und dass das Argument der Souveränität, der Unabhängigkeit des Schweizer Volks nicht neu ist. Jetzt wird diese europäische Konvention vor allem infrage gestellt wegen der Annahme gewisser Initiativen, die – ganz oder teilweise – mit ihr nicht vereinbar sind.

Die Minarett-Initiative ist ein Beispiel dafür …

Ja, die Religionsfreiheit oder Glaubensfreiheit ist Teil der Menschenrechte, der Grundwerte unserer Demokratie. Ein Verbot, Minarette zu bauen, kann man sehr wohl in unsere Verfassung schreiben, aber ein absolutes Verbot, das es nicht gestattet, im Einzelfall abzuwägen, widerspricht den Menschenrechten, insbesondere der EMRK.

Warum hat man dann abgestimmt?

Das ist dem System geschuldet. Gegenwärtig ist es nicht möglich, Initiativen für ungültig zu erklären, weil sie der EMRK widersprechen, also stimmt man darüber ab. Theoretisch geht die europäische Konvention vor, aber in der Praxis … kommt es auf die Situation an.

Wissen Sie, unsere Studierenden lernen als erstes im ersten Jahr des Studiums der Rechte, dass in vielen Fällen die richtige juristische Antwort lautet: «Es kommt drauf an». Die Anwendung einer theoretischen Regel ergibt je nach den konkreten Umständen, in denen man sich befindet, unterschiedliche Resultate.

Aber warum abstimmen, wenn es nicht klar ist?

Das Problem ist, dass man nicht wirklich prüft, ob die Initiativen umsetzbar sind, bevor man darüber abstimmen lässt. Man überprüft nur, ob sie zwingendem Völkerrecht widersprechen. Die Folge davon ist, dass es Verfassungsartikel gibt, die sich gegenseitig widersprechen, und einige stehen unseren internationalen Verpflichtungen entgegen. Die EMRK legt fest, dass schweizerische Gerichte und, in letzter Instanz, der europäische Menschenrechtsgerichtshof überprüfen können, ob ein gewisser Minimalstandard des Schutzes der Grundrechte eingehalten wird.

Kann die EMRK wirklich gekündigt werden?

Gewisse Verträge sind nicht aufkündbar, und der Bundesrat zählt die EMRK dazu. Die politischen Konsequenzen einer möglichen Kündigung sind unmöglich vorhersehbar. Aber es kann sicher gesagt werden, dass dies für unser Land katastrophal wäre. Die Initiative der SVP spricht nicht ausdrücklich von Kündigung; der Text will anscheinend vor allem, dass schweizerisches Recht vor internationalem Recht kommt. Das würde uns in eine schwierige Situation bringen: die Schweiz sähe sich ausserstande, ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen.

Was sind denn die wirklichen Risiken für die Schweizer, abgesehen von den politischen und diplomatischen Verwicklungen?

Die Initiative bedroht die Rechtssicherheit, weil der gegenwärtige Schutz der Menschenrechte von einem Moment zum anderen verschlechtert werden könnte, wenn eine Mehrheit der Stimmenden dies will. Unter dem Vorwand, den Volkswillen zu stärken, trägt die Initiative zum Abbau unserer fundamentalen Rechte bei, die sowohl von unserer Verfassung wie von internationalem Recht garantiert werden. Neben der internationalen Glaubwürdigkeit der Schweiz und den häufigeren Verurteilungen – mit ihren finanziellen Folgen – sind es unsere Grundrechte wie das Recht auf freie Meinungsäusserung, der Respektierung des Privatlebens, der Vereins- und Versammlungsfreiheit, der Würde, die auf dem Spiel stehen.

So haben wir viel zu verlieren?

Ja, sehr viel. Jedwelches Grundrecht könnte infrage gestellt und abgeschafft werden. Die behaupteten Nachteile der EMRK sind vernachlässigbar im Vergleich mit den Vorteilen, die sie uns bietet.

Können Sie uns ein konkretes Beispiel der Rechtssprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs EMGH geben?

Im März 2014 hat der europäische Gerichtshof die Verjährungsfrist für Asbest-Opfer im Schweizer Recht für unzulässig erklärt. In diesem Urteil hat sich das Gericht mit dem Rekurs der Familie eines Mannes befasst, der an einer Lungenkrebserkrankung gestorben war, die auf den regelmässigen Kontakt mit Asbest bei der Arbeit in den 70er-Jahren zurückzuführen war. Seine Familie wollte die Sache nach seinem Tod 2005 vor die schweizerischen Gerichte bringen, aber ihre Forderungen wurden vom Bundesgericht als verjährt beurteilt, das deshalb nicht auf den Fall eintrat. Der EMGH entschied, dass die Familie eine Entschädigung zugut hat. Andere Urteile gegen die Schweiz befassten sich mit der nicht übermässigen Verfahrensdauer und nicht voreingenommen Gerichten; der Gerichtshof befasst sich auch häufig mit Gewalt, insbesondere gegen Frauen, mit dem Recht auf Information oder allgemeiner mit dem Verbot der Diskriminierung. Im Jahr 2013 hat das Gericht 1210 Fälle aus der Schweiz behandelt, die nur zu 13 Urteilen und 9 Verurteilungen der Schweiz führten.

Manche finden, dass der Gerichtshof verglichen mit seinem ursprünglichen Auftrag, zu weit gehe …

Überhaupt nicht. Es geht nur um einen minimalen Schutz. Der EMGH schützt beispielsweise das Recht, versichert zu sein nicht, aber er kann in gewissen Fällen garantieren, dass jemand bei Versicherungsleistungen nicht benachteiligt wird. Man muss sich bewusst sein, dass die Menschenrechte viel mit unserem täglichen Leben zu tun haben und dass jede und jeder eines Tages den EMGH nötig haben kann.

Jetzt wird aber ein Zusatzprotokoll diskutiert, das die Nachrangigkeit des Gerichtshofs wieder stärken soll.

Ja, man verlangt von den Richtern etwas mehr Zurückhaltung. Das ist wohl der Weg, den man beschreiten sollte, wenn man findet, der Gerichtshof gehe zu weit. Auf diese Weise kann man ihn etwas in die Schranken weisen.

Werden alle Verurteilungen des EMGH respektiert?

Nein, nicht immer. Die Schweiz befolgt heute die Urteile recht gut, was bei anderen Staaten nicht der Fall ist. Aber beim Europarat gibt es einen Folgemechanismus, der die Beachtung der Urteile sichert.

Die Initiative der SVP stellt den EMGH heute wieder ins Rampenlicht. Trotzdem ist er eher wenig bekannt.

Ja, die Schweizer/innen verwechseln häufig Europa und Europarat. Sie glauben, der Gerichtshof sei in Brüssel, obschon er sich in Strassburg befindet. Und die Signatarstaaten sind diejenigen des geografischen Europa. Unsere Arbeitsgruppe setzt sich zum Ziel, über den Gerichtshof und seine Rolle zu informieren. Weil er für einen guten Schutz der Bürger/innen unabdingbar ist!

Interview: Henriette Schaffter / pan.

Die «Arbeitsgruppe Dialog EMRK» und die SVP-Initiative

Die Arbeitsgruppe, deren Mitglied Nesa Zimmermann ist, hat zum Ziel, die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer Schutzfunktion für unsere Grundrechte und in ihrer Wichtigkeit für ein stabiles Europa mit gesunden De- mokratien und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen. Die EMRK ist für die Schweiz verbindlich, trotzdem gelangen immer wieder Volksinitiativen zur Abstimmung, welche im Widerspruch zur EMRK stehen. So zum Beispiel die Aus- schaffungs-Initiative, bei der die Gefahr besteht, dass ein Gesetz verabschiedet wird, das eine Verletzung von Menschenrechten, die durch die EMRK garantiert werden, bewusst in Kauf nimmt und ausserdem Bestimmungen der Schweizer Bundesverfassung widerspricht. Diverse politische Vorstösse gegen den Vorrang des Völkerrechts vor dem Landesrecht sind eingereicht worden.

Volksinitiative

Die von der SVP am 12. August 2014 vorgestellte Volksinitiative heisst «Schweizer Recht geht fremdem Recht vor». Die SVP fin- det: «Widerspricht ein Staatsvertrag der Verfassung, muss er neu ausgehandelt oder, wenn dies nicht geht, gekündigt werden.» Die Bundesverfassung sei die übergeordnete Grundlage für das Recht der Schweizerischen Eidge- nossenschaft, mit Ausnahme des zwingenden Völkerrechts.

Die SVP erklärt: «Sollte sich beispielsweise zeigen, dass die Ausschaffungs-Initiative oder die Minarett-Initiative nicht mit der EMRK bzw. deren Auslegung durch den EGMR vereinbar ist, und lassen sich keine entsprechenden Vorbehalte anbringen, so muss die Schweiz die EMRK kündigen.»

Am 18. August hat die Staatspolitische Kommission des Nationalrats ein klares Signal gegen die absolutistischen Absichten der SVP ausgesandt. Sie hat mit Mehrheitsentscheid mehrere Vorstösse der Blocher-Partei für den Vorrang schweizerischen Rechts vor internationalem Recht abgelehnt. Gleichzeitig forderte sie den Nationalrat auf, sich mit den Kriterien für die Gültigerklärung von Initiativen zu beschäftigen, damit die verschiedenen Vorschläge für eine bessere Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit den in der Verfassung enthaltenen Garantien bereinigt werden können.

Wenn die SVP in ihrem Positionspapier in einem Atemzug «den Bundesrat, die Mehrheit des Par- laments, das Bundesgericht» als «Gegner von Volk und Ständen» bezeichnet, muss daran erinnert werden, dass diese Instanzen die notwendigen Gegengewichte jeder Demokratie sind.