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Kolumne

Das Massaker des europäischen Personenverkehrsnetzes

Im  Fernverkehr verschlechtert sich das Angebot der europäischen Bahnen seit einigen Jahren laufend. Zwar gab es mal die Phase, als Hochgeschwindigkeitszüge auf dem Vormarsch waren, mit der Entwicklung des TGV in Frankreich, des ICE in Deutschland und später auch in Spanien und Italien. Doch dieser Elan bei den grenzüberschreitenden Hochgeschwindigkeitsverbindungen war nur ein Strohfeuer, und das französische Beispiel zeigt, wie weit auch im Binnenverkehr die Ambitionen zurückgeschraubt werden können. Zwar wird der TGV Est zum Glück noch fertiggebaut, und der TGV Sud-Ouest kommt noch schlecht und recht voran, aber möglicherweise sind dies die letzten Bauten eines goldenen Zeitalters. Die netzübergreifenden Verbindungen bleiben im Benelux sowie zwischen der Schweiz und ihren unmittelbaren Nachbarn qualitativ gut (danke, Lyria!), vielleicht auch in Skandinavien. Doch überall sonst in Europa ist ein Rückzug auf die nationale Dimension oder ein eigentlicher Krieg der Netzbetreiber zu beobachten.

Bei den Verbindungen durch den Ärmelkanaltunnel, in Mittel- und Osteuropa sowie nach Italien ist die Entwicklung frappant (NZZ vom 1. Juni). Wer weiterhin mit dem Zug reist, verdient grosses Lob. Für Zugreisen nach England gab es früher mal Thalys, ein Gemeinschaftsunternehmen von SNCF, SNCB, NS und DB, das eine Hochgeschwindigkeitsflotte betrieb. Diese Gemeinschaft ist zerbrochen. Jetzt liefern sich SNCF und DB einen direkten Konkurrenzkampf um die Verbindungen nach London. Dabei scheint jedes Kampfmittel erlaubt zu sein. Dies natürlich zum Schaden der treuen Bahnkundschaft, die von einem Vernetzungseffekt und vorteilhaften Globalpreisen zu profitieren hoffte. In Österreich haben die ÖBB zwischen Wien und einigen regionalen Zentren das Rail-Jet-Netz aufgebaut, dem die Privatgesellschaft Westbahn (mit der SNCF als Aktionärin und präsidiert vom ehemaligen SBB-Direktor) scharfe Konkurrenz macht. Die beiden Operateure erkennen ihre Billette gegenseitig nicht an und tun alles, damit die Anschlüsse zwischen ihnen nicht klappen.

Ein weiteres Beispiel ist der Express „Vindobona“, der ein halbes Jahrhundert lang Berlin über Prag mit Wien verband: Er wurde abgeschafft unter dem Vorwand, dass er in Österreich den Stundentakt störe. Der Ersatzzug Prag–Bratislava–Budapest umfährt nun Wien mit seinem hohen Kundenpotenzial … Auch bei den Verbindungen zwischen Polen und Deutschland wird gegeneinander statt miteinander gearbeitet: Polen konzentriert sich auf seine Nord–Süd-Achse mit Pendolinos, die nicht schneller als 200 km/h fahren. Bahnverbindungen nach Westen aber werden gestrichen und den Fernbussen überlassen. Ein weiteres Beispiel sind die zum Teil sehr schlechten Verbindungen München–Rom mit Reisezeiten bis 15 Stunden und bis fünfmaligem Umsteigen.

Solche Beispiele gibt es viele. Ist das die neue Qualität der liberalisierten europäischen Bahn: dass sie die Kundinnen und Kunden abschreckt? Die Zeiten, als die Staatsbahnen zusammenarbeiteten, um der Kundschaft mit dem „Trans Europ Express“ möglichst gute Verbindungen anzubieten und das Reisen möglichst angenehm zu machen, scheinen endgültig vorbei zu sein. Das Bedauerlichste an dieser Entwicklung ist: Es ist nicht die Konkurrenz der Low-cost-Airlines und der Fernbusse, die der Bahn schadet, sondern sie schadet sich mit der Verschlechterung ihres Angebots vor allem selber. Der Grund dafür ist, dass sich die Netzbetreiber bis aufs Blut bekämpfen, um sich hier und dort ein paar Strecken abzujagen. Dies führt automatisch zu einem engstirnigen Rückzug auf die nationale Dimension und zur Verteidigung des „Familienerbes“ auf Leben und Tod.

Für die grosse Mehrheit der Europäer/innen, die auf ein effizientes und vorbildliches kontinentales Bahnnetz gehofft hatten, ist die Liberalisierung eine Katastrophe. Die Vorbilder guter Bahnqualität findet man nun in Japan und China, aber auch in der Schweiz, das ist offensichtlich ... Es hat historische Gründe: Ende des 19. Jahrhunderts lieferten sich in unserem Land fünf Privatbahnen einen unerbittlichen Konkurrenzkampf, wie er heute in Europa tobt. Der damalige Bundesrat schlug deshalb vor, die Bahn zu verstaatlichen, indem die SBB geschaffen wurde, als eine der ersten Staatsbahnen auf dem Kontinent. Die Vorlage, die dem Volk 1898 zur Abstimmung vorgelegt wurde, beschreibt genau das gleiche Chaos, wie es heute in Europa herrscht: ruinöser Wettbewerb, absichtlicher Bruch von Anschlüssen, eine Vielzahl inkompatibler Billette, ein erbärmlicher Kundenservice… Die Stimmbürger/innen nahmen die Verstaatlichung der Bahn denn auch mit absolutem Mehr an. Dieses Erbe verpflichtet und muss von der Schweiz gegen die aktuellen Fehlentwicklungen in Europa verteidigt werden.

Michel Béguelin/Fi