Film von Samir
Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer
Im Moment läuft der Film «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» in Schweizer Kinos. Der Zürcher Filmemacher Samir hat einen Dokumentarfilm über die Geschichte der Migration in der Schweiz geschaffen und wirft gleichzeitig einen kritischen Blick auf die Gewerkschaftsbewegung.
«Der Schweizer Kapitalismus brauchte diese Menschen, aber die Schweizer Gesellschaft wollte sie nicht», sagt Concetto Vecchio im Film. Der Autor und Journalist wurde in der Schweiz als Kind einer Gastarbeiterfamilie geboren und lebt heute in Rom. Er ist einer der zahlreichen Personen im Film, die ihre Geschichte erzählen. Es sind vor allem Italienerinnen und Italiener, die zu Wort kommen. Sie kamen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Schweiz, um als Saisonniers zu arbeiten.
Samir, der selber als Kind vom Irak in die Schweiz migrierte, erzählt mit Animationen, Archivbildern und aktuellen Interviews, was sich damals in der Schweiz abspielte. Die Wirtschaft brauchte Arbeitskräfte und es kamen Menschen. Zuerst vor allem Menschen aus Süditalien, das damals bettelarm war. Sie arbeiteten für kleine Löhne im Bau und in Fabriken. Hausen mussten sie in armseligen Baracken, unter prekären Bedingungen, oft ohne Privatsphäre. Ihre Kinder liessen sie zurück in Italien oder schmuggelten sie illegal in die Schweiz.
Im Schrank versteckt
Catia Porri kam 1962 als Kind in die Schweiz. In die Schule durfte sie vorerst nicht, erzählt sie. Sie musste sich während anderthalb Jahren verstecken, zuweilen im Schrank, wenn Besuch kam. Sie lebt heute noch in Zürich und ist politisch aktiv. Als Erwachsene engagierte sie sich in der italienischen Solidaritätsorganisation «Colonie Libere». Diese Organisation betrieb und betreibt zum Teil heute noch kleine Kultur- und Begegnungszentren in der ganzen Schweiz. Die Saisonniers aus Italien lebten lange in einer Schweizer Parallelwelt, zeigt der Film.
Samir thematisiert in «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» nicht nur die harten Lebensbedingungen der Migrantinnen und Migranten, sondern auch die alltägliche Fremdenfeindlichkeit, mit der die hart arbeitenden Menschen umgehen mussten. Der Höhepunkt der fremdenfeindlichen Politik wurde 1970 mit der «Schwarzenbach-Initiative» erreicht, die forderte, den Ausländeranteil in der Schweiz auf 10 % zu beschränken. Schliesslich sagten 54 % der Schweizer Nein (damals durften nur Männer abstimmen). Trotzdem war die Angst bei der migrantischen Bevölkerung gross. Sie seien bereit gewesen, zu streiken, wäre die Initiative angenommen worden, erzählt einer der Protagonisten im Film. Dann wäre die Schweiz stillgestanden. Die Gewerkschaften waren gespalten. Die alte Generation sah in der ausländischen Arbeiterschaft eine Gefahr, die jüngere Generation eine Chance für den gewerkschaftlichen Kampf.
Italianità wurde cool
In den Achtzigerjahren veränderte sich das Bild sowohl bei den Gewerkschaften als auch generell in der Schweiz. Die Gewerkschaften begannen die migrantische Bevölkerung zu integrieren. Gebürtige Italienerinnen und Italiener übernahmen sogar Schlüsselrollen, z. B. in der Unia oder beim SEV. Italienisches Essen und Kultur wurde «cool». Doch verschwindet die Fremdenfeindlichkeit? Nein. Sie nimmt einfach neue Formen an. Am Schluss des Films sind wir in Süditalien, wo nicht mehr die italienische Lokalbevölkerung unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten muss, sondern die Migrantinnen und Migranten aus Afrika.
Michael Spahr