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Braucht es das Megafon zur Meinungsäusserung?
In Zeiten des Lockdowns sind Kundgebungen auf der Strasse kein besonders naheliegendes Thema. Doch am 15. Januar 2020 fällte das Bundesgericht einen Entscheid, der auch für die Gewerkschaften interessant ist: Es geht um die Informations- und Meinungsäusserungsfreiheit sowie die Benützung von Megafonen bei Demos.
Im August 2018 stellte eine antispeziesistische Gruppierung ein Gesuch für eine zweistündige Kundgebung an einem Samstag im Oktober. Es sollte eine ruhige Demo vor dem Alimentarium in Vevey werden, untermalt von einigen kurzen Aufrufen durch das Megafon.
Die Kundgebung wurde genehmigt, nicht aber die Megafone. Gegen dieses Verbot legte die Gruppierung beim Kantonsgericht Rekurs ein, der jedoch abgelehnt wurde. Das Kantonsgericht argumentierte, die Wahrung der öffentlichen Ruhe habe Priorität. Den Einsatz von Megafonen zu verbieten, sei verhältnismässig, da man sie nicht unbedingt brauche, um eine Botschaft zu verbreiten. Daraufhin zog die Gruppierung den Rekurs wegen Einschränkung der freien Meinungsäusserung vor das Bundesgericht.
Das Bundesgericht hält fest, dass die Meinungs- und Informationsfreiheit im Artikel 16 der Bundesverfassung verankert ist. Jede Person hat das Recht, sich eine eigene Meinung zu bilden und sie frei zu verbreiten. Gemäss Art. 10 §1 der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist die Meinungsäusserungsfreiheit Teil der uneingeschränkten Meinungs- und Informationsfreiheit.
Die Bundesverfassung garantiert auch die Versammlungsfreiheit: Jedem Menschen steht es frei, Versammlungen zu organisieren und an solchen teilzunehmen oder nicht. Als Versammlung gilt dabei jede Zusammenkunft von Personen, die auf eine gemeinsame Meinungsbildung und -äusserung abzielt. Vergleichbare Freiheiten sind auch im Art. 11 §1 der EMRK verankert.
Einschränkungen dieser Freiheiten sieht das Gesetz vor, wenn die nationale oder die allgemeine Sicherheit, die öffentliche Ordnung, Gesundheit, Moral oder die Rechte und Freiheiten anderer gefährdet sind. Soviel zur juristischen Theorie.
Im Prinzip besteht ein bedingtes Recht, den öffentlichen Raum für Kundgebungen zu nutzen. Dieses verlangt jedoch eine Priorisierung unter den Nutzern, weshalb solche Demos bewilligungspflichtig sind. Die zuständige Behörde hat die verschiedenen Interessen gegeneinander abzuwägen und entsprechend Rahmenbedingungen, drohende Verstösse und mögliche Alternativen zu prüfen. Die Organisatoren haben nicht das Recht zu verlangen, dass ihre Demonstration zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort stattfinden darf. Sie haben jedoch Anspruch darauf, dass ihr Wunsch nach öffentlichem Gehör berücksichtigt wird. Die Behörde hat also einen gewissen Ermessensspielraum, ob sie die Bewilligung für die Kundgebung ausstellt oder verweigert. Die allgemeinen polizeilichen Vorschriften beinhalten auch die kommunalen Vorschriften für die Bewilligung. Diese definieren unter anderem das Prozedere, dem die Organisatoren folgen müssen, und die Voraussetzungen bzw. Vorsichtsmassnahmen, um die Sicherheit zu gewährleisten und die öffentliche Ruhe und Ordnung zu bewahren. Die öffentliche Ruhe ist dem Reglement zufolge unbedingt zu schützen.
Das Bundesgericht stellt jedoch in Frage, ob durch eine räumlich und zeitlich limitierte Demo an einem Samstagnachmittag durch die Spaziergänger/innen genügend öffentliches Interesse gegeben ist, um ein Grundrecht einzuschränken.
Wie alle anderen Grundrechte hat auch die Meinungsäusserungsfreiheit keinen absoluten Wert. Eine Einschränkung ist rechtskonform, wenn sie durch ein anderes Gesetz vorgesehen ist, wenn ein öffentliches Interesse besteht oder wenn sie dem Ziel entsprechend verhältnismässig ist. In der Praxis wird das Prinzip des öffentlichen Interesses oft mit dem Schutz der öffentlichen Ordnung vermischt. Die Sicherheit, der Schutz von Ruhe und Moral sowie der Gesundheitsschutz sind von öffentlichem Interesse. Das heisst jedoch nicht, dass die Äusserung umstrittener Meinungen, die allenfalls den moralischen, religiösen oder politischen Überzeugungen der Bevölkerung widersprechen oder Institutionen herausfordern, zensiert oder eingeschränkt werden muss.
Gestützt auf das Prinzip der Verhältnismässigkeit argumentierte das Kantonsgericht, dass die Demonstrant/innen in ihrer Meinungsäusserung nicht eingeschränkt seien. Dafür brauche es nicht unbedingt ein Megafon; man könne auch einfach einen Text laut vorlesen oder Flyer verteilen.
Doch diesem Punkt stimmt das Bundesgericht nicht zu. Die öffentliche Ruhe könne bewahrt werden, ohne den Gebrauch eines Megafons während ca. 5 Minuten in Abständen von 15 Minuten zu untersagen. Im Gegensatz zu einer ununterbrochenen Beschallung durch Lautsprecher stelle dies keine Störung der öffentlichen Ruhe dar. Ausserdem war die Demonstration an einem Samstagnachmittag geplant, nicht an einem Sonn- oder Feiertag mit besonderem Ruhebedürfnis. So sieht das Bundesgericht im Verbot des Megafons eine unverhältnismässige Einschränkung der Versammlungsfreiheit, der Meinungsäusserungs- wie auch der Informationsfreiheit. Aus diesem Grund genehmigte es den Rekurs – und der Beschluss des Kantonsgerichts wurde für ungültig erklärt.