Drei Generationen im SEV
Der Streik wirkte nach
"Brüni" hiess die letzte Kuh des Ehepaars Gottlieb (1872–1952) und Elisabeth Brügger-Schenker von Winznau SO. Sie hatten sechs Kinder, ein kleines Bauernhaus und wohl auch Schulden. Der Umschwung reichte für ein paar Obstbäume und Hühner, aber nicht für genügend Heu für die Kuh und die zwei Ziegen. Diese wurden mit Blattwerk aus dem Hardwald gefüttert. Er arbeitete in der SBB-Werkstätte Olten, sie bot Eier, wenig Obst und Gemüse am Markt in Olten feil. So kam die Familie schlecht und recht über die Runden. Im April 1918 trat der älteste Sohn Gottlieb (1901–1980) seine erste Stelle bei der SBB in Aarburg als «Gehülfe 3. Klasse» an.
Ob die Brüggers im November 1918 gestreikt haben, wissen wir Nachfahren nicht. Sie haben wohl keine aktive Rolle gespielt. Mutter Elisabeth lenkte die Familiengeschicke. Die neue Stelle des Sohnes galt es nicht zu gefährden. Mit bloss einer Kuh im Stall konnte man sich eine aktive Rolle im Landesstreik nicht leisten. Mein Vater Gottlieb hat uns das nie klar gesagt, aber immer betont, wie wichtig und prägend der Landesstreik für unser Land war. Er hat uns von den Strafen erzählt, von den Entlassungen. Kindern von Streikenden wurde eine Anstellung bei der SBB noch Jahre später verwehrt. Mein Vater hat mir oft gesagt, wie wichtig es sei, sich für soziale Gerechtigkeit zu wehren. Er schwärmte von Errungenschaften, die die Arbeitnehmer nur durch den Landestreik erkämpfen konnten. Diese zu erhalten sei eine wichtige Aufgabe: Arbeitnehmer müssten möglichst zu 100% organisiert sein. Aber er riet, politisches Engagement gegenüber Arbeitgeber und Öffentlichkeit nicht augenfällig zu zeigen. Die Erfahrungen des Streiks steckten ihm noch in den Knochen. Seine Ansicht, dass man seine politische Gesinnung bedeckt halten solle, teile ich nicht. Man muss sich für soziale Gerechtigkeit wehren. Solidarität und politisches Engagement darf und soll man gegen aussen transparent machen – unabhängig davon, wie viele Kühe man im Stall hat.Martin Brügger