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100 Jahre SEV

Erstes Stück der Torte für die Jugend

Am Samstag, 30. November 2019, am 100. Jahrestag der SEV-Gründung fand das Jubiläumsjahr seinen krönenden Abschluss. Das Abschlussfest stand im Zeichen der Zukunft und wurde deshalb von der SEV-Jugend organisiert.

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Gut 250 Personen hatten sich im Bierhübeli – dem Zentrum des Berner Nachtlebens – versammelt. Die Stimmung war ausgelassen, gemeinsam warf man einen Blick in die Zukunft der Mobilität, aber auch der Gewerkschaften. Zu diesem Thema gab es ein Podiumsgespräch.

Blick in die Zukunft

Unter der Leitung von Kulturjournalistin Gisela Feuz diskutierten Verkehrsingenieur Stefan Karch, selbstständiger Berater für Bahnsysteme und ehemaliger Leiter Flottentechnik Personenverkehr SBB, Leonie Nägler, Sozialwissenschafterin und Junge Grüne, sowie Daniela Lehmann, Koordinatorin Verkehrspolitik SEV, über die Mobilität in 20 Jahren. Und beantworteten Fragen aus dem Publikum.

Sie waren sich einig, dass Digitalisierung, Vernetzung und Automatisierung auf Schiene und Strasse weitergehen. Bis Autos ganz führerlos verkehren, dürfte es eher 40 als 20 Jahre dauern, schätzte Stefan Karch. «Damit könnte der öV kleinere Gefässe einsetzen.» Für Daniela Lehmann «verschwimmt damit die Grenze zwischen öV und motorisiertem Individualverkehr (MIV).

Unter der Leitung von Kulturjournalistin Gisela Feuz diskutierten Verkehrsingenieur Stefan Karch, Leonie Nägler, Sozialwissenschafterin und Junge Grüne, sowie Daniela Lehmann, Koordinatorin Verkehrspolitik SEV, über die Mobilität in 20 Jahren.

Autos werden wohl vermehrt gemeinschaftlich genutzt, womit der Nutzen des Fahrzeugbesitzes infrage gestellt wird.» Vernetzung bedeute, dass künftig eine Zentrale die Reisenden auf dem ganzen Weg von Tür zu Tür, über alle Verkehrsträger, betreuen kann und bei Pannen Lösungen organisiert, ergänzte Stefan Karch. «Damit braucht man keinen Fahrplan mehr.» Was die Daten und deren Schutz betrifft, «muss man klar zwischen Fahrgast und Verkehrsmittel trennen.»

«Wo hört das Land auf?»

Einig waren sich die Expert/innen auch darin, dass zum Schutz des Klimas der Antrieb der Fahrzeuge von fossilen auf erneuerbare Energieträger umgestellt werden muss (Dekarbonisierung). Dass Schienenfahrzeuge weniger Energie brauchen als Strassenfahrzeuge – und pro Passagier weniger Platz als der MIV. Und dass das Auto in Stadtzentren weitgehend überflüssig wird. «Doch auf dem Land bleibt das Auto unverzichtbar, von den Städten aufs Land zu schliessen geht nicht!», betonte Leonie Nägler. «Wo hört das Land auf?», fragte Stefan Karch. «Wenn man über den MIV diskutiert, wohnen plötzlich alle auf dem Land. An jedem Werktag fahren heute 250000 PW nach Zürich: Müssen wirklich alle in die Stadt hinein fahren?»

Xenja Widmer und Mélissa Farine führten durch den Abend.

Auf die Frage, ob der öV gratis sein wird, zeigten sich alle skeptisch. «Falls der jährliche Beitrag von 5,8 Mia. Franken der Reisenden an den öV wegfiele, würde dies zu vermehrtem Spardruck führen, gerade für das Personal, dessen Kosten einen grossen Teil der öV-Kosten ausmachen», sagte Daniela Lehmann. «Und ich bin mir nicht sicher, ob der Nulltarif nicht ein falsches Signal wäre, denn eigentlich sollte die Mobilität eingeschränkt werden, um Ressourcen und Umwelt zu schonen.» Auch Leonie Nägler fand: «Eigentlich müssten wir lernen, weniger mobil zu sein, und das geht wohl nicht ohne höhere Preise.» Doch eine nachhaltige Mobilität müsse auch sozial sein und barrierefrei für ältere Menschen und solche mit Behinderung. Darum werde es trotz Digitalisierung weiterhin Personal in Zügen und Bahnhöfen brauchen, «das können wir nicht allein mit der Zentrale regeln», sagte Nägler. «Und es braucht gute Arbeitsbedingungen für alle in der Mobilitätsbranche.»

Das unterstrich auch Daniela Lehmann und nannte als schlechte Beispiele die scheinselbstständigen Uber- Fahrer/innen oder «jene, die am Abend die E-Trottinette einsammeln». Auch müssten die Verkehrsunternehmen vorausschauen, wohin sich ihre Berufe entwickeln, und ihre Mitarbeitenden beim Erwerb der nötigen Kompetenzen unterstützen, statt sie zu entlassen und neue Leute zu suchen. «Und für jene, die der Digitalisierung nicht gewachsen sind – das sind hoffentlich nur wenige – braucht es Lösungen im Betrieb.» Kurz: Dem SEV geht die Arbeit nicht aus und er muss schauen, wie er trotz neuer Arbeitsformen wie Homeworking an die Mitarbeitenden herankommt.

Orakel aus der Ostschweiz

Slam-Poet Renato Kaiser

Ganz im Zeichen von SEV Young animierte die SEV-Jugendsekretärin Xenja Widmer zusammen mit Mélissa Farine von der Jugendkommission den Abend. Der Slampoet Renato Kaiser legte eine Glanzleistung hin und begeisterte das ganze Publikum – auch auf Französisch. Der Wortakrobat betonte geschickt den schönen Klang der französischen Sprache oder erzählte Geschichten von Zugfahrten. Sein «Auftrag» war, sich die Mobilität im Jahr 2040 vorzustellen. Das Resultat: Er träumt von einer Bahn, bei der es keine Halte auf Verlangen mehr gibt – besonders nicht in Uttwil TG –, sondern die einen stattdessen automatisch in einer Kapsel aus dem Zug befördert. Er möchte, dass es künftig nicht etwa keine Zugbegleiter bzw. Kundenbegleiterinnen mehr gibt, sondern eine/n pro Passagier! Damit hat er das Publikum definitiv im Sack.

Für SEV-Gewerkschaftssekretär Martin Allemann war es der letzte Abend als Präsident des OK, bei dem er sich ausgiebig bedankte. «Ich bin zufrieden, wie dieses Jahr gelaufen ist, das wir ganz unseren Mitgliedern gewidmet haben!» Seit der Taufe der Jubiläumslok am 2.Februar bis zu diesem Abend ist viel passiert. Er hob den Galaabend vom 3.Juni hervor, «organisiert von Daniela Lehmann, der uns in guter Erinnerung bleiben wird». Weiter betonte er die erfolgreiche Bustour und die grossartige Arbeit der Koordinatorin Chantal Fischer. «Doch den Erfolg haben wir auch den Sektionen zu verdanken, sowie Peter Käppler, der die Chauffeure koordiniert hat, und René Schnegg, der für alle Probleme die richtige Lösung gefunden hat.» Zum Schluss bedankte er sich beim Kommunikationsteam für das breite Medienecho.

«Tragt Sorge zum SEV»

Giorgio Tuti und Martin Allemann

Bei Martin Allemann bedankte sich Giorgio Tuti: «Ich bedanke mich herzlich für Martins Einsatz als OK-Präsident. Nach über 30 Jahren beim SEV geht er in Pension, doch sein Knowhow bleibt uns noch erhalten: Er wird uns in den Dossiers FVP und AZG weiterhin beraten. 30 Jahre als Gewerkschaftssekretär – das ist nicht nichts! Ich kenne ihn schon eine ganze Weile. Eine seiner grössten Stärken ist, dass er keine Verhandlung verlässt, solange kein gutes Resultat vorliegt. Was er weniger gut kann, ist leise sprechen. Man hört ihn durch jede Mauer», witzelte Tuti. «Das hat uns aber in den Verhandlungen geholfen. Martin, danke für deinen Einsatz für unsere Mitglieder und für deine kompetente Leitung des OK!» Abschliessend wiederholte Martin Allemann sein Credo: «Ein Gewerkschaftssekretär ohne Mitglieder kann nichts machen. Daher: Tragt Sorge zum SEV!»

Danach ergriffen zwei Junge das Wort – Laura Furrer und Jordi D’Alessandro: «Wir alle haben mehr oder weniger lang zur 100-jährigen Geschichte des SEV beigetragen. 40000 Mitglieder, acht Unterverbände, drei Kommissionen, aber nur eine Gewerkschaft. Mit eurer Hilfe halten wir noch weitere 100 Jahre zusammen!», betonte Jordi.

Jordi d'Alessandro und Laura Keller

«Wir engagieren uns weiter im Sinne der Kameradschaft, der gegenseitigen Hilfe und des sozialen Kampfes.» An seiner Seite erinnerte Laura Furrer daran, dass es zur Geburtsstunde des SEV noch unvorstellbar gewesen wäre, dass eine halbe Million solidarische Frauen und Männer für die Gleichstellung auf die Strasse gehen, wie sie es am 14. Juni 2019 getan haben. «Noch vor 100 Jahren hatten die Frauen in unserem Land kein Stimmrecht. In den Kantonen Waadt und Neuenburg erhielten sie es 40, in Appenzell-Innerrhoden sogar erst 71 Jahre später dank einem Bundesgerichtsentscheid.» Sie lobte die erste Barrierewartin Lina Mühlheim, die 1955 in den SEV-Vorstand gewählt worden war, sowie Hélène Weber, die 1991 die erste Gewerkschaftssekretärin im SEV wurde.

Zum Schluss dankte Giorgio Tuti allen, die sich für das Jubiläum engagiert haben. Standing Ovation! «Natürlich gab es nicht nur gute Momente. Ich möchte noch einmal an den tragischen Tod unseres Kollegen in Baden erinnern und an die Stärke der Zürcher Sektion, welche die Busausstellung trotzdem und mit viel Fingerspitzengefühl organisiert hat.»

Und wie es sich für ein Jubiläum gehört, gab es eine Torte. «Sie anzuschneiden ist nicht an mir», sagte Giorgio Tuti. «Diese Ehre gehört der Jugend, hier habt ihr das Messer!» Und so war es Xenja Widmer, die sich das erste Stück nehmen durfte.

Vivian Bologna, Markus Fischer, kt

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