Arbeitsrecht und Gewerkschaftsrechte
Ukraine: Gewerkschaften gegen Krieg und Liberalisierung
Seit Beginn des Krieges kämpft die ukrainische Gewerkschaftsbewegung, einschliesslich der Eisenbahner, an zwei Fronten. Sie beteiligt sich einerseits am Kampf gegen die russischen Besatzer. Andererseits muss sie auch die Massnahmen der Regierung bekämpfen, die das Kriegsrecht nutzt, um das Arbeitsrecht und die Gewerkschaftsrechte zu schwächen und damit die neoliberale Schocktherapie für die Nachkriegszeit vorzubereiten.
Seit dem Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine am 14. Februar 2022 hat «Ukrsalisnizia», die Ukrainische Eisenbahn gezeigt, dass sie ein wichtiges Infrastrukturunternehmen ist. Die Eisenbahner tragen durch ihre heldenhafte Arbeit bei Kriegshandlungen und Raketenangriffen zur Verteidigungsfähigkeit des Staates bei. Und Zehntausende sind in die ukrainische Armee eingetreten. Im ersten Kriegsjahr wurden laut den ukrainischen Eisenbahngewerkschaften 353 von ihnen bei Kämpfen oder im Kreuzfeuer getötet und 819 verwundet.
Stiller Abbau der sozialen Rechte
Während der Krieg und das wirtschaftliche Überleben die Aufmerksamkeit der Bevölkerung absorbieren, «werden die sozialen Rechte leise abgebaut», warnte «Le Monde Diplomatique» im November 2023. Bereits im März 2022 passte ein erster Gesetzesentwurf die Arbeitsverhältnisse an die Kriegszeiten an. Er wurde im ukrainischen Parlament ohne Diskussion oder Abstimmung verabschiedet. «Diese Methode wird durch das Verbot von Streiks und Demonstrationen durch das Kriegsrecht, das seit der russischen Invasion in Kraft ist, erleichtert», erklärte «Mediapart» am 21. Juni 2023. Die Arbeitgeber können nun die Wochenarbeitszeit von 40 auf 60 Stunden erhöhen, Arbeitnehmende innerhalb von zehn Tagen entlassen oder Arbeitsverträge vorübergehend aussetzen.
Im Juli 2022 hiess das Parlament einen zweiten Gesetzesentwurf gut, der die Ausserkraftsetzung von Firmenarbeitsverträgen (FAV) vorsah und die Arbeitgeber ermächtigte, die Arbeitsbedingungen einseitig zu ändern. Zudem beschränkte er die Änderungen diesmal nicht auf die Dauer des Krieges. Am 9. August 2022 löste die Europäische Transportarbeiter-Föderation (ETF), die in Brüssel die Eisenbahngewerkschaften aller europäischen Länder – darunter der SEV – und ihre Mitglieder vertritt, Alarm aus: Sie informierte die höchsten europäischen Instanzen in einem Brief über ihre Befürchtungen zum Gesetzesentwurf Nr. 5371, der fast 70 Prozent der Arbeitnehmenden ihrer Rechte beraubt. Und sie rief zum Handeln auf, um die Attacken gegen die ukrainische Gewerkschaftsbewegung zu stoppen.
Kollateralschäden des Krieges beim Arbeitsrecht
Ohne Erfolg – Präsident Selenski verabschiedete das Gesetz am 17. August 2022. Somit gelten nun für Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitenden keine FAV mehr: Die Arbeitsverträge werden zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmenden «verhandelt» und unterzeichnet. Der Internationale und der Europäische Gewerkschaftsbund verurteilten das Gesetz am 19. August in einem ungewöhnlich scharfen Schreiben an die EU-Kommission und den Europarat als «unsoziales Gesetz angetrieben von Oligarchen hinter der Regierungspartei, denen die Interessen des Volkes gleichgültig sind».
ETF-Generalsekretärin Livia Spera brachte im Februar 2023 ihren Unmut deutlich zum Ausdruck: «Die Opfer der ukrainischen Transportarbeiter dürfen nicht damit verdankt werden, dass ihre Regierung ihre Rechte zerstört. Wir machen die Entscheidungsträger darauf aufmerksam, dass die internationale Gewerkschaftsbewegung die sogenannten ‹Reformen› und Privatisierungspläne, die unter dem politischen Deckmantel dieses Krieges verfolgt werden, wahrnimmt, und wir werden das nicht akzeptieren.» ... «Die Rechte der ukrainischen Arbeitnehmer dürfen in diesem Krieg nicht zum Kollateralschaden werden.»
Während der Krieg immer unerbittlicher wird, verstärkte die Regierung die neoliberale Offensive Ende 2023 mit einem neuen Entwurf zur Reform des ukrainischen Arbeitsgesetzes, der vom Wirtschaftsministerium ausgearbeitet wurde. Das vollständige Dokument enthält 264 Artikel und stellt einen massiven unsozialen Angriff auf die Rechte der Arbeitnehmenden dar. Ziel ist es, die «vorübergehenden» Einschränkungen der Rechte auch nach dem Sieg fortzuführen. Insbesondere sollen die Zuschläge für Überstunden oder Nachtarbeit weiter reduziert und die Verfahren zur Entlassung von Arbeitnehmenden vereinfacht werden können. Die Gewerkschaft der Eisenbahner und Transportwegebauer der Ukraine (Turtcu), die Mitglied der ETF ist, reagierte im Januar 2024 und betonte die Notwendigkeit einer Überarbeitung des Entwurfs. Dies sei dringend erforderlich, weil das neue Gesetz, falls es dieses Jahr verabschiedet würde, 2025 in Kraft treten würde
Neoliberale Nachkriegszeit
Man kann sich fragen, weshalb der ukrainische Staat den Service public und das Arbeitsrecht gleichermassen stark angreift, obwohl er sich doch auf den Krieg konzentrieren sollte. Selbst wenn die Betrachtungsweise weit entfernt erscheinen mag, liegt die Antwort beim geplanten Wiederaufbau durch einen «Marshallplan», der auch die Eisenbahn einschliesst und Appetit weckt. Ende 2022 schätzte die Weltbank die Kosten für die Schäden in der Ukraine auf 350 Milliarden Euro. Diese Problematik stand bereits bei der Konferenz in Lugano im Sommer 2022 auf der Traktandenliste. Der «Entwurf» des Wiederaufbauplans nennt die «Widerstandsposition der Gewerkschaften» als institutionelle Beschränkung eines «modernen Arbeitsmarktes». Bisher folgen die Pläne weitgehend der neoliberalen Logik und basieren auf den Prinzipien der Deregulierung, Liberalisierung, Exportförderung und Privatisierung, um Kapital anzuziehen.
Die ukrainischen Eliten gehen also voran und lockern das Arbeitsgesetz, um Europa und den IWF zufriedenzustellen, die im Gegenzug zu unternehmensfreundlichen «Reformen» bedingte Kredite angeboten hatten, und um europäisches und amerikanisches Kapital anzuziehen. Alexander Rodnyansky, Wirtschaftsberater des ukrainischen Präsidenten, macht keinen Hehl daraus, dass die Ukraine durch «ein umfassendes Privatisierungsprogramm und eine Neugestaltung des Arbeitsrechts» attraktiv werden soll («The Guardian» im Oktober 2022).
Das ukrainische Volk und die ukrainischen Arbeiterinnen und Arbeiter verdienen unsere volle Solidarität. In der Ukraine scheinen Krieg und Kapitalismus leider die beiden Seiten derselben Medaille zu sein, die Tod, Leid und unerbittlichen sozialen Abstieg mit sich bringt.
Yves Sancey