Gerichtsurteil
Von der SBB entlassen, vor Gericht erfolgreich
Etwas naiv könnte man sich vorstellen, dass ein Unternehmen wie die SBB – «die Eisenbahnerfamilie» – nicht einen fast 59-jährigen Reiniger wegen einer Bagatelle fristlos entlässt. Und doch, Igor (der tatsächlich anders heisst) musste diese bittere Erfahrung machen. Ein schwacher Trost, dass er mit Unterstützung des SEV vor Gericht gewonnen hat.
Am 13. Februar 2021 geriet das Leben von Igor aus den Fugen. Der SBB-Mitarbeiter war dem Unternehmen fest verbunden, hatte keine Probleme und gute Beurteilungen. 2002 kam er mit einem befristeten Vertrag zur Bahn, 2005 wurde er fest angestellt. Mit bald 20 Jahren im Unternehmen begann er sich auf die Pensionierung vorzubereiten, wobei er von Valida profitieren wollte. Schliesslich arbeitete er als Wagenreiniger in einem körperlich anstrengenden Beruf.
Igor arbeitete im Bahnhof Genf zusammen mit Pablo (Name geändert), als dieser in einem Wagen eine Tasche fand, die ein Reisender offenbar vergessen hatte. Pablo hinterlegte die Tasche in einem Dienstlokal, Igor war dabei. Als der Kunde später seine Tasche zurückbekam, fehlten darin 1700 Euro. Am 26. April 2021 wurden die beiden Arbeiter verurteilt, aber Igor beteuerte seine Unschuld.
Fristlose Kündigung
Am 3. Mai teilen die Vorgesetzten Igor mit, dass ihm auf der Grundlage des Strafbefehls fristlos gekündigt werde. Igor wendet sich danach an den SEV und verteidigt sich mit Händen und Füssen. Er rekurriert gegen den Strafbefehl vom 26. April 2021. Er bestreitet den Tatbestand, den die Staatsanwaltschaft ihm vorwirft, und betont, dass er die Tasche nicht angerührt hatte. Inzwischen zieht auch der Kunde seine Strafanzeige zurück, und die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein.
Aber der Schaden ist angerichtet. Die SBB hat den Arbeitsvertrag aus ihrer Sicht zu Recht fristlos gekündigt. Hauptsächlich stellt sich der Arbeitgeber auf den Stadtpunkt, dass Igor die Sorgfaltspflicht schwerwiegend verletzt habe. «Die SBB erklärt, dass er die Tasche am Schalter hätte abgeben müssen, sobald seine Arbeit es ihm ermöglichte», erläutert Vincent Brodard vom SEV-Rechtsdienst.
Klarer Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts
Igor lässt sich nicht unterkriegen und klagt zusammen mit dem SEV vor Bundesverwaltungsgericht (BVGer). Er bezeichnet die Kündigung als missbräuchlich, gar ungültig, und verlangt die Wiederanstellung im Betrieb, allenfalls eine Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung. «Für die SBB kam eine Wiederanstellung nicht in Frage, trotz der Einstellung des Verfahrens durch die Justiz. Das Vertrauensverhältnis sei zerstört», führt Vincent Brodard aus.
Aus juristischer Sicht gibt das BVGer Igor weitgehend recht. «Das BVGer hält fest, dass die fristlose Entlassung eine aussergewöhnliche Massnahme ist, die nur sehr restriktiv angewendet werden darf. Damit eine solche Massnahme gerechtfertigt ist, muss das Vergehen des Mitarbeiters ausgesprochen schwerwiegend sein. Das ist hier nicht der Fall. Igor hätte höchstens Pablo sagen müssen, dass er die Tasche abgeben müsse. Die Tatsache, dass Igor seit gegen 20 Jahren seine Arbeit einwandfrei geleistet hat, hätte man zu seinen Gunsten werten müssen. Der juristische Erfolg bringt ihm eine Entschädigung in der Höhe von acht Monatslöhnen», ergänzt Vincent Brodard. «Igor hat zwar nicht erreicht, dass er wieder eingestellt wird, aber er steht nicht mit leeren Händen da. Der Entscheid des BVGer ist zudem wichtig, weil er eine allfällige Kürzung der Arbeitslosenentschädigung verhindert oder zumindest mässigt. Da geht es um Tausende von Franken.»
Aber weshalb kann das BVGer nicht die Wiederanstellung verfügen? «Igor hätte nachweisen müssen, dass die Kündigung missbräuchlich war nach Artikel 184 Abs. 1 Bst. b GAV SBB 2019 und Artikel 336 OR. Das heisst, er hätte beweisen müssen, dass hinter seiner Kündigung die bewusste Absicht stand, sie als Vorwand zu nutzen, um sich von einem älteren Arbeitnehmer zu trennen, der Leistungsansprüche geltend machen könnte. Das ist eine unüberwindbare Hürde für die Beweisführung», kritisiert Vincent Brodard.
Weil Igor die SBB verlassen musste, hat er seinen Valida-Rentenanspruch verloren. Das ist eine äusserst bittere Pille. Igor, ein treuer, unbescholtener Mitarbeiter, wird kurz vor dem 60. Lebensjahr in die Arbeitslosigkeit getrieben. Die Mängel beim Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegen einmal mehr offen. Und das in einem öffentlich-rechtlichen Unternehmen.
Vivian Bologna / Übersetzung: Peter Moor
Ungerechtigkeit ist widerlich
Editorial von Valérie Solano, Vizepräsidentin SEV
Entlassen zu werden wird immer als Ungerechtigkeit empfunden, aber gewisse Entlassungen sind ungerechter als andere. Was Igor* bei der SBB erlebt hat, gehört in die Kategorie der widerlichen Entlassungen. Ich wähle diesen Ausdruck bewusst. Es ist eine der Entlassungen, die einfach nur Empörung und Hass auslösen. Wir finden absolut keine Entschuldigung für das Unternehmen.
Igor kann man durchaus als Vorzeigeangestellten bezeichnen. Er macht seine Arbeit gut. Er ist dem Unternehmen seit nahezu 20 Jahren treu, bis zum Moment, wo ein Kollege bei der gemeinsamen Arbeit in einem Wagen eine Tasche findet und seine Sorgfaltspflicht verletzt. Igor wird nun von der Justiz entlastet, die seine fristlose Entlassung als unverhältnismässig verurteilte. Zwar bekommt er eine Entschädigung im Umfang von acht Monatslöhnen, aber der Schaden ist angerichtet, denn Igor hat nicht nur seine Stelle verloren, sondern auch die Aussicht auf eine frühzeitige Pensionierung dank dem Rentenmodell Valida. Die SBB nennt es gerne Zukunftsmodell.
Sie muss wohl zugeben, dass sie falsch liegt, denn Igor muss seine Zukunft nochmals neu planen. Er muss auf die Sicherheit verzichten, die er sich mit seiner schweren Arbeit verdient hatte. Mit dem Entscheid, Igor zu entlassen, behandelt die SBB ihn als reine Nummer. Sie hat ihre Verantwortung als öffentliches Unternehmen, das uns allen gehört, komplett zur Seite gewischt. Sie hat ihren Mitarbeiter in den Abgrund gestossen. Ganz bewusst.
Damit hat sie komplett vergessen, dass Igor ein Mensch ist, der fast die Hälfte seines Berufslebens der SBB gegeben hat, also der Allgemeinheit. Wenn ein Staatsbetrieb solch unmenschliche Methoden anwendet, ist es wirklich schlimm. In diesem Verfahren hätte die SBB mehrfach die Möglichkeit gehabt, einen Schritt zurückzugehen und einen andern Ausweg aus diesem Konflikt zu suchen, der nicht irgendeinen Mitarbeiter betrifft, sondern einen der treusten.
Was bleibt von diesem Drama? Aus gewerkschaftlicher Sicht die Feststellung, dass es sogar bei der SBB möglich ist, unverhältnismässige Entlassungen auszusprechen und lediglich finanzielle Entschädigungen zahlen zu müssen.
So wie es mehr Schutz für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter braucht, die sich im Unternehmen gewerkschaftlich betätigen, muss auch die Wiederanstellung nach einem Gerichtsurteil aufgegriffen werden. Der GAV der SBB kann und muss in diesem Punkt verbessert werden.
*Name geändert.
Der SEV-Rechtsdienst ist für dich da
Der Berufsrechtsschutz ist eine der wertvollsten Leistungen des SEV für seine Mitglieder. «Grundsätzlich hat jedes Mitglied Anspruch auf Hilfe bei Problemen am Arbeitsplatz», betont Vincent Brodard vom SEV-Rechtsdienst. «Wir unterstützen unsere Mitglieder bei Problemen mit den Vorgesetzten oder Arbeitskolleg:innen, bei Gesundheitsproblemen, bei Massnahmen im Zusammenhang mit der Anstellung, wenn eine Kündigungsandrohung ausgesprochen wird, wenn die Invalidenversicherung, die Suva, die Ergänzungsleistungen oder die Krankenkasse betroffen sind, bei einem Unfall am Arbeitsplatz oder auf dem Arbeitsweg, bei Unstimmigkeiten mit der Pensionskasse, der AHV, der IV oder den Hilflosenentschädigungen, im Zusammenhang mit den Fahrvergünstigungen fürs Personal FVP oder bei jedem anderen Problem, das einen Zusammenhang mit dem Arbeitsvertrag oder dem Arbeitsplatz hat.»
Weitere Informationen unter sev-online.ch (https://sev-online.ch/de/deine-rechte/berufsrechtsschutz.php/)
Kommentare
Legendre cedric 16/02/2023 14:12:22
Je me reconnais un peu dans l'histoire "d'Igor"
En effet, licencié pour motif " ce que nous avons discuté de vive voix" me paraît complètement abusif.
Suite à une histoire avec une cliente qui n'a jamais été au pénal le procureur a décidé d'avertir mon entreprise afin de me soumettre une sanction administrative ou tout au moins un rappel à l'ordre.
Bilan : ils me convoquent (2 responsables) pour l'histoire et m'annonce un licenciement immédiat.
Je n'aurais jamais pensé ça donc je suis venu seul et non accompagné d'un des membres du syndicat JP Éthique par exemple) qui m' aurait certainement bien soutenu.
Ayant pour une histoire d'accident encore un avocat du SEV ( Maître Schwab) il a donc pris mon dossier en main afin de faire valoir mes droits
Cette histoire est récente elle date de vendredi 10 février
Un contrat rompu , en plein déménagement, ma femme enceinte de 7 mois et toujours dans l'attente d'une justice pour éviter la précarité
Thomas 17/02/2023 15:12:29
Danke für die Informationen. Was mir im Artikel fehlt, sind Fakten zum Fall (warum wurde die Strafanzeige zurückgezogen) und wie lautete die Begründung der SBB für die fristlose Entlassung. Ich kann mir ganz einfach nicht vorstellen, dass dieser MA wegen der Unterlassung der Information seines Kollegen, was dieser zu tun gehabt hätte, derart krass sanktioniert worden ist. Da muss noch etwas anderes vorgelegen haben. Im weiteren, wäre das Vorgehen im heutigen Prozess "den Gegenstand am Schalter abzugeben" auch eher ungewöhnlich, arbeiten doch auch MA in der Reinigung mit der entsprechenden App und haben Abgabeorte für Gegenstände mit oder ohne Wert. Das wirft zusätzliche Fragen zum Bericht auf.
Beste Grüsse - Thomas
hans berchtold 19/02/2023 21:19:56
ich war nahe 50 jahr bei SBB. trotz Personal mangel besteht leider kein Kündigung Schutz mehr im Statsbetrieb der Schweiz.es war ein bösser aroganter Chef,fieleicht ohne Betribserfahrug?