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Gewalt

Die TL tun sich schwer mit Aggressionen

Im Zuge einer Billettkontrolle wird eine widerspenstige Kundin gegenüber einer hörbehinderten Kontrolleurin beleidigend, drohend, aggressiv und diskriminierend. Die Verkehrsbetriebe Lausanne (TL) sind erst zögerlich und entscheiden dann: gar nichts. Das ist schockierend.

Es geschah im Frühling 2022. Anlässlich einer Kontrolle in der Metro M2 in Lausanne will eine Kundin weder einen Fahrausweis noch eine ID zeigen. Sie sucht in ihren Apps vergeblich nach einem Abo der TL respektive der SBB. Damit beginnt das übliche Verfahren. Die Kundin wird zunehmend genervt und wirft der Kontrolleurin aggressives Verhalten vor. Sie will auch ihre Identität nicht preisgeben. Eine zweite Kontrolleurin, die dazu kommt, erklärt ihr, dass ihre Kollegin nicht aggressiv sei. Die Kundin erwidert, diese höre ja nichts, da sie mit dem Hörapparat hinter ihr gestanden sei, was nicht den Tatsachen entspricht. Die betreffende Kontrolleurin, Anne Baechler, hat tatsächlich ein Hörgerät, das ihr bestens hilft. Sie ist also überhaupt nicht taub und hatte in ihren 19 Dienstjahren bei den TL nie auch nur das kleinste Problem mit ihrer Behinderung, ihren Beruf auszuüben. Nie hat sie sich mit einer derartigen Situation auseinandersetzen müssen.

Über die vorhandene Aborechnung gelingt es der hinzugekommenen Kontrolleurin, die Identität der Kundin festzustellen. Sie beginnt das übliche Prozedere für ein vergessenes Abonnement, da laut Gesetz eine Rechnung nicht ausreicht. Dies versetzt die Kundin vollends in Rage. Sie verlangt die Namen der Kontrolleurinnen, wird drohend und versucht vergeblich, Annes Badge zu behändigen. Sie beginnt ohne Einwilligung Annes Gesicht zu filmen. Sie verweist auf Verwandte, die sie bei den TL habe. Während die Kontrolleurinnen auf die angeforderte Verstärkung warten, entfernen sie sich, um die Situation zu beruhigen. Die Kundin folgt ihnen und zeigt mit dem Finger auf sie, während sie die beiden Frauen mit erniedrigenden Sprüchen beschimpft. Mehrfach nennt sie Annes Hörbehinderung. Die Aufforderung einer dazugestossenen dritten Kontrolleurin bewirkt, dass die immer noch zornige Kundin ihr Abo aus der Handyhülle fischt. Das ist das Ende der Kontrolle.

Für Anne war das herablassende und diskriminierende Verhalten der Kundin, die sich der Kontrolle hartnäckig widersetzte, traumatisierend. Sie fühlte sich bedroht und beleidigt durch diesen erniedrigenden Angriff und meldete dies gleichentags ihrem Arbeitgeber. Ein detaillierter Bericht des Vorfalls wurde am folgenden Tag erstellt. Dann war es still. Lange. Belastend.

Mittlerweile ist Dezember, sieben Monate später. Die TL haben noch immer nicht reagiert, und Anne weiss noch immer nichts Offizielles über den Stand der Dinge nach dieser Aggression. Auf informellem Weg hat sie erfahren, dass die TL keine Anzeige machen wollen. Anne schreibt der Personalchefin und erhält einen auf den nächsten Tag datierten Brief vom Kundendienst, der sich nicht für die lange Wartezeit entschuldigt, sondern nur die Information enthält, die TL wollten nichts machen. Der dafür nicht zuständige Kundendienst hat also einen begründeten Entscheid gefällt.

Aber Anne ist für ihre schwierige Tätigkeit auf Unterstützung angewiesen. Sie möchte von der Unternehmung wissen, dass sie bei einer solchen Aggression ernst genommen wird. Anders als vom Kundendienst in seiner Stellungnahme behauptet, müsste der Arbeitgeber nämlich keine Strafanzeige machen, sondern den Vorfall lediglich den zuständigen Behörden melden. Was die TL mit der Begründung, sie seien dazu nicht verpflichtet, verweigert haben. In "Lausanne Cités" vom 24.10.2021 hatten sie noch erklärt: «Bei einer Agression erstatten wir systematisch Strafanzeige bei den zuständigen Behörden.» Verstösse gemäss Art. 126 des Strafgesetzbuches sind Offizialdelikte (Art. 10 des Bundesgesetzes über die Sicherheitsorgane der Transportunternehmen im öV); darunter fallen auch die Kontrolleure im öffentlichen Verkehr. Die Staatsanwaltschaft muss also eine Untersuchung einleiten. An diese hat sich Anne jetzt aufgrund der Weigerung der TL direkt gewendet.

«Was an dieser Geschichte schockiert, ist das Unvermögen der TL, die Aussage einer Angestellten, die in ihrer 19-jährigen Dienstzeit fehlerfrei gearbeitet hat, ernst zu nehmen», empört sich SEV-Vizepräsident Christian Fankhauser. Anne und ihre Kolleg:innen sind täglich schwierigen Situationen mit der Kundschaft ausgesetzt. «Der Arbeitgeber ist für die physische und mentale Gesundheit seiner Angestellten ebenso verantwortlich wie für deren Persönlichkeitsschutz. Keine Aggression oder Diskriminierung sollte folgenlos sein», sagt Fankhauser. Über die Pflicht, Angestellte zu schützen und zu unterstützen, hinaus muss festgestellt werden, dass Anne die Möglichkeit verloren hat, sich im Strafverfahren als Privatklägerin zu konstituieren.

Sie erwartet von ihrem Arbeitgeber, dass er wahrnimmt, welcher Gewalt sein Personal an der Front ausgesetzt wird. Sie möchte kein Mitleid wegen ihrer Hörbehinderung, die sie nie daran gehindert hat, ihre Arbeit professionell zu erledigen, sondern will respektiert werden. Sie fühlt sich von ihrem Unternehmen im Stich gelassen. Das Personal muss sich darauf verlassen können, dass sein Arbeitgeber es unterstützt. Bei den TL und insbesondere beim Kundendienst gibt es also noch einiges zu tun, um das Ausmass der Herausforderung zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren.

Yves Sancey
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Und bei der SBB? Gut, aber Luft nach oben

Das Problem wird sehr ernst genommen. «Jede Aggression gegen unser Personal wird systematisch angezeigt», erläuterte Jean-Philippe Schmidt, Mediensprecher der SBB in «24 heures» (9.2.2022). «Durchschnittlich registrieren wir alle zwei bis drei Tage eine Aggression» (will heissen jährlich zwischen 120 und 180 Fällen). «Die Situation blieb in den letzten Jahren stabil, aber die Aggressionen werden tendenziell schwerer.» Seit sie 150 Anzeigen jährlich zählten, wie im 2020, während der Pandemie mit 41% Frequenzrückgang, veröffentlicht die SBB keine Zahlen mehr. Gemäss Sonntagsblick waren es 2017 täglich acht Aggressionen, seither herrscht Schweigen. Eine Geheimhaltungspolitik, die von Jürg Hurni, verantwortlicher SEV-Sekretär für die Divisionen Personenverkehr bedauert wird. «Transparenz wäre wichtig.» Die SBB hat den Anstieg der Gewalt aufgrund der SEV-Kampagnen ernst genommen. Das neue Konzept bringt gemäss Hurni aber Probleme, da die systematische Doppelbegleitung nicht mehr vorgesehen ist. «In Doppelkompositionen ist jeder Kundenbegleiter in seinem Teil allein. Bei heiklen Situationen können sie sich nicht unterstützen und fühlen sich alleingelassen. Die SBB sagt, sie kümmere sich um die Sicherheit, wenn sie spezielle Überwachungskameras einführen will, lehnt es aber ab, die Zahl der Transportpolizisten und Kundenbegleiter:innen aufzustocken», bedauert Hurni.

Kommentare

  • Axel Reymond

    Axel Reymond 31/03/2023 14:10:32

    Je vous invite à visionner le témoignage ici : https://www.rts.ch/play/tv/36-9/video/jai-pete-les-plombs?urn=urn:rts:video:3721582

    Si vous avez d'autres questions, je suis à votre disposition.
    Depuis, 1990, il y a eu certes quelques petites évolutions, mais à quel prix ?

    Combien d'agent.e.s ont été muté dans un autre service, ont démissionné !
    Quand un patron n'assume pas, il devrait être puni par la loi et suffisemment sévérement pour que toute envie d'ignorer, d'esquiver et d'enterrer en silence coûte finalement 5-10 plus cher de ne rien faire ! Tout passe par le fric, les dépenses pour les soins devraient être à la charge de ceux qui n'assument pas !