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Luftverkehr

Flughafen Genf: Schluss mit dem Gesetz des Dschungels?

Am 1. Juni hat der Kanton Genf für die Bodenabfertigung am Flughafen Genf einen Normalarbeitsvertrag (NAV) in Kraft gesetzt. Eine aussergewöhnliche Massnahme für einen Sektor, in dem sich missbräuchliche und wiederholte Lohnunterbietungen häufen.

© Genève Aéroport

Der NAV wurde von der Kammer für kollektive Arbeitsbeziehungen (CRCT) per 1. Juni erlassen. Diese verspricht sich davon eine wirksame Aufwertung der prekärsten Arbeitsverhältnisse in den Bereichen Passagierabfertigung, Gepäck, Fracht usw. Ein NAV mit zwingenden Mindestlöhnen, wie es ihn in Genf schon für den Detailhandel gibt, ist das schärfste Mittel, das die Regierung hat.

Der NAV ermöglicht im Wesentlichen eine bessere Bezahlung von Hilfs- und Temporärkräften, die stundenweise bezahlt werden. Diese Art von Beschäftigung war lange den Studierenden vorbehalten. Auch heute noch sind 75 % der Hilfskräfte jünger als 30 Jahre. In den letzten 15 Jahren ist ihre Zahl jedoch stark gestiegen, sodass sie heute mehr als 40 % des Bodenpersonals am Genfer Flughafen ausmachen (von insgesamt mehr als 2000 Personen). Sie stellen für die beiden grössten in diesem Bereich tätigen Unternehmen, Swissport und Dnata, flexible und billige Arbeitskräfte dar. In dem Sektor hat es in den letzten Jahren mehrere Streiks und soziale Konflikte gegeben.

Der Erlass des NAV folgt auf eine Untersuchung, die 2018 gemeinsam vom kantonalen Amt für Arbeitsinspektion und Arbeitsbeziehungen (OCIRT), vom Institut für angewandte Forschung in Betriebswirtschaft der Universität Genf und vom kantonalen Amt für Statistik durchgeführt wurde. Auf dieser Grundlage kam der Rat für Arbeitsmarktüberwachung (CSME) zu dem Schluss, dass es in dem Sektor «missbräuchliche und wiederholte Lohnunterbietungen» gibt.

Insbesondere wurden erhebliche Unterschiede zwischen den Löhnen von Festangestellte und Hilfskräften festgestellt, obwohl letztere oft kontinuierlich, mit einem hohen Beschäftigungsgrad und identischen Aufgaben arbeiten. Im Oktober 2018, vor Inkrafttreten des kantonalen Mindestlohns, ergab die umfassende Studie Lohnunterschiede von 1000 Franken oder mehr für die gleiche Aufgabe und das gleiche Dienstalter zwischen Hilfskräften und Festangestellten. So hatte z. B. eine Hilfskraft in der Frachtabfertigung einen Anfangslohn von 3500 Franken brutto monatlich, ein Festangestellter dagegen begann mit 4500 Franken. Oder in der Passagierabfertigung verdiente eine Hilfskraft nach zehn Dienstjahren 4100 Franken, sein festangestellter Kollege 5300 Franken.

Der NAV ist allgemeinverbindlich, das heisst, er gilt für alle Angestellten und nicht nur für Festangestellte und Unternehmen, die über einen GAV oder eine Flughafenkonzession verfügen. Er gilt also auch für Fluggesellschaften, die selbst Bodenabfertigungsaufgaben erledigen, Temporärfirmen und Subunternehmen.

«Der NAV ist ein wichtiger Schritt, um die prekären Arbeitsverhältnisse zu bekämpfen, die sich am internationalen Flughafen Genf eingenistet haben», sagt Pablo Guarino, Gewerkschaftssekretär von SEV-GATA. «Wir werden auf korrekte Umsetzung achten.» Bemerkenswerte Verbesserungen sind die Anpassung an die Lebenshaltungskosten, der jährliche Lohnaufstieg, die Dienstalterszulage oder die Zulage für das Tragen von Lasten. Hingegen der von den Gewerkschaften geforderte automatische Übergang von Hilfskräften in eine Festanstellung ist gemäss CRCT rechtlich nicht möglich. Diese hofft, dass der NAV dazu führt, «dass die Arbeitgeber den Rückgriff auf diese Kategorie auf die notwendigen Situationen beschränken».

Der NAV ist umso willkommener, als die Erholung des Luftverkehrs dazu führt, dass die Bodenabfertiger überlastet sind. «Die Kolleg:innen stehen unter grossem Druck, denn ihre Arbeitszeiten ändern häufig und Überstunden häufen sich», warnt Pablo Guarino.

Yves Sancey, mit Le Courrier / Übersetzung: Markus Fischer

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