Jahreswechsel
«Wir haben einen Umbruch geschafft»
Das vergangene Jahr war wie das Jahr zuvor geprägt von Covid-19. Für den SEV war es dennoch ein gutes Jahr. Er blickt zuversichtlich in die nahe Zukunft. Präsident Giorgio Tuti im Interview.
Ein erneut schwieriges Pandemiejahr liegt hinter uns. Was waren 2021 die grössten Herausforderungen für den SEV?
Das Jahr war in der Tat kein einfaches. Jede Gewerkschaft, die eingeschränkt wird in ihrer Bewegungsfreiheit, ist auch eingeschränkt in ihrem Handeln. Denn wir leben vom Kontakt und Austausch mit den Menschen. Doch der SEV hat das Beste aus der Situation gemacht und neue, zum Teil fantasievolle Formen der Begegnung und der Gewerkschaftsarbeit gefunden. An dieser Stelle möchte ich meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Unterverbänden, Sektionen und Unternehmen und natürlich aus dem SEV-Profiapparat ein grosses Kompliment aussprechen. Was ihr im letzten Jahr geleistet habt, ist hervorragend!
Ich kann erfreulicherweise sagen, dass für den SEV 2021 ein gutes gewerkschaftliches Jahr war. Die Zahl der Neumitglieder im SEV hat sich seit 2014 nie mehr so gut entwickelt wie im vergangenen Jahr. Es ist uns auch gelungen, vermehrt jüngere Mitglieder zu gewinnen. Es freut mich ausserordentlich, dass der SEV trotz schwierigen Rahmenbedingungen bestens funktioniert. Und das in der bekannten Professionalität.
Viele Menschen sind in diesen Zeiten mit Fragen und Ängsten konfrontiert. Ein starker Partner an der Seite zu wissen, der die Interessen vehement vertritt, beruhigt. Der SEV war da, präsent, bei den Leuten – und auch aus diesem Grund war und ist es sehr einfach, SEV-Mitglied zu werden. Die zahlreichen erzielten Erfolge haben ebenfalls dazu beigetragen, den SEV greifbarer zu machen. Das ist klar.
Hat das vergangene Jahr den Umbruch bei der Mitgliederentwicklung markiert?
Ja, ich glaube ganz fest daran. Wir denken bei unserem Handeln konsequent immer auch ans Mitgliederwerben, und das ist gut und richtig so. Natürlich ist es immer heikel, aufgrund eines guten Jahres von einem Trend zu sprechen. Ich bin aber zuversichtlich, dass es so weitergeht in den nächsten Monaten. Wichtig ist sicher, dass wir greifbar beziehungsweise für die Mitarbeitenden im öV präsent bleiben, sei dies physisch oder virtuell; und dass wir unsere kollektiven und individuellen Dienstleistungen weiterhin in gewohnt hoher Qualität erbringen.
Welche Themen werden den SEV im 2022 nebst der Werbung beschäftigen?
Da gibt es drei grosse Schwerpunkte.
- Sozialpolitisch werden wir uns weiterhin stark mit Rentenfragen auseinandersetzen. Wir sammeln Unterschriften gegen die AHV 21 (siehe Editorial) und wehren uns gegen die weitere Verschlechterung der Rentensituation. Weiter werden wir eine Initiative unterstützen, die der Schweizerische Gewerkschaftsbund im Februar lancieren will. Sie verlangt, dass Teile der Gewinne der Schweizerischen Nationalbank (SNB) für die AHV eingesetzt werden. Alleine mit den 26 Milliarden Franken Gewinn vom letzten Jahr könnte man den zusätzlichen Finanzierungsbedarf der AHV für die nächsten 10 Jahre decken. Noch viel grösser sind die Reserven der SNB. Geld ist also genügend vorhanden; wir müssen einfach darüber diskutieren, wie es eingesetzt werden soll. Nicht weniger wichtig ist ausserdem die Initiative für eine 13. AHV-Rente, die Ende Jahr oder Anfang 2023 zur Abstimmung kommen wird. Wir werden uns also sehr bald mit der Abstimmungskampagne befassen.
- Ein weiterer Schwerpunkt betrifft die Aushandlung und Weiterentwicklung von Gesamtarbeitsverträgen (GAV), also unsere gewerkschaftliche Kernarbeit. Für unsere Mitglieder ist es die wohl wichtigste Arbeit beziehungsweise Dienstleistung unserer Gewerkschaft. Der SEV sorgt dafür, dass ihre Anstellungs- und Lebensbedingungen auf gutem Niveau bleiben oder noch verbessert werden. Auch dieses Jahr werden wir in zahlreichen öV-Betrieben Verhandlungen führen. Dabei werden wir – wie immer – alles daransetzen, die hohe Qualität der Verträge zu halten oder noch weiter zu verbessern.
- Zu guter Letzt wird diesen Herbst, nach der letztjährigen Verschiebung aufgrund der Pandemie, der SEV-Kongress stattfinden. Jedenfalls hoffe ich, dass dessen Durchführung, möglich sein wird, so wie wir es gewohnt sind. Dabei ist mir eine inhaltlich und organisatorisch saubere Vorbereitung und Durchführung sehr wichtig. Der Kongress ist unser oberstes Organ, an dem wir unsere Positionen der nächsten Jahre diskutieren und verabschieden. Die Positionspapiere sind wie ein Kompass, der uns in den verschiedenen Themen die Richtung weist. Auch stehen einige Wahlen an, so des Vorstandspräsidiums, der SEV-Geschäftsleitung und von Teilen der Geschäftsprüfungskommission. Ich freue mich sehr auf unseren Kongress.
Stichwort Geschäftsleitung: Valérie Solano hat Anfang Jahr die langjährige Vizepräsidentin Barbara Spalinger abgelöst. Wie werdet ihr in diesem Gremium künftig zusammenarbeiten?
Nach langjähriger gleichbleibender Besetzung der GL gab es nun mit Christian Fankhauser und Valérie Solano gleich zwei Wechsel innerhalb von zwei Jahren. Es ist klar – mit jedem personellen Wechsel in unserem 4er-Gremium müssen wir uns alle auch wieder aneinander gewöhnen und aufeinander abstimmen. Es sind zwei neue Persönlichkeiten mit eigenem Stil und eigenen Erfahrungen zu uns gestossen. Für mich ist das auch sehr bereichernd. Und da die beiden aus der Organisation und nicht von aussen kommen, ist die Zusammenarbeit sicher auch einfacher und berechenbarer. Sie beide kennen den SEV bestens, haben ihre neue Position sehr schnell gefunden und sich rasch in die Dossiers eingearbeitet. Der grosse Wechsel ist sicher sprachlicher Natur: Die GL ist «welscher» geworden. Dadurch werden wir uns künftig wohl vermehrt in dieser Sprache austauschen müssen, was uns sicherlich auch gut tun wird (lacht).
Werfen wir noch einen Blick über die Grenzen hinaus: Du wurdest als Präsident der Bahnsektion der ETF wiedergewählt. Wo siehst du die grössten Synergien zum SEV?
Ich glaube, der SEV und die ETF können hier gegenseitig profitieren. Die Schweiz ist in Europa beispielsweise bekannt für ihr gut funktionierendes öV-System. Es basiert auf Zusammenarbeit beziehungsweise Kooperation zwischen den Bahnen, statt auf Liberalisierung und Wettbewerb. Also miteinander, statt gegeneinander. Zur Entwicklung dieses Modells hat auch der SEV massgeblich beigetragen. Denn es gab hierzulande bekanntlich auch Stimmen, die den Wettbewerb fördern und so beispielsweise die Fernverkehrskonzession auseinanderreissen wollten. Ich sage bei meinen Kontakten mit den europäischen Behörden und der Politik deshalb jeweils nicht ganz ohne Stolz, dass sie gerne von uns lernen dürfen und eher die Kooperation als den Wettbewerb fördern sollen. Daran arbeiten wir gerade in der ETF ziemlich stark.
Als Gewerkschaft eines Nicht-EU-Mitgliedslands profitiert der SEV andererseits natürlich auch von der Arbeit und dem Lobbying der ETF sowie von ihrem gut ausgebauten Beziehungsnetz zu den EU-Behörden, zur Politik und den Bahnunternehmen.
Der SEV kann aber sicher auch imagemässig davon profitieren, wenn der SEV-Präsident an der Spitze der Bahnsektion der ETF ist. Es gibt unserer Gewerkschaft mehr Glaubwürdigkeit und Gewicht. Denn die ETF-Bahnsektion umfasst immerhin 83 Gewerkschaften aus 37 Ländern Europas und ist zuständig für rund 850 000 Eisenbahnerinnen und Eisenbahner.
Was wünschst du dir und dem SEV fürs neue Jahr?
Ich hoffe sehr, dass die Pandemie bald nicht mehr einen so grossen Stellenwert einnehmen wird und wir uns vermehrt auch wieder physisch treffen und unsere zahlreichen Versammlungen, Begegnungen, Sitzungen, Aktionen usw. in gewohntem Rahmen durchführen können.
Chantal Fischer