SGB-Zentralsekretärin Doris Bianchi analysiert die Nationalratsbeschlüsse zur Reform der Altersvorsorge

Aufblähung der 2. Säule

Für Doris Bianchi vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund hat der Nationalrat in der Herbstsession die «Altersvorsorge 2020» für die Arbeitnehmenden inakzeptabel gemacht: So sollen noch mehr Lohnbeiträge in die Pensionskassen fliessen, nicht aber in die AHV, wo sie mehr Rente brächten. Und die AHV soll die Zusatzfinanzierung für die Babyboom-Rentner/innen nur erhalten, wenn das Rentenalter 67 kommt.

Doris Bianchi am SGB-Kongress vom 25. Oktober 2014. (Foto: Jacques Magnin)

kontakt.sev: Wie der Ständerat will der Nationalrat den Mindestumwandlungssatz, mit dem bei der Pensionierung die Rente berechnet wird, von 6,8 auf 6% senken. Diese Renteneinbusse von 12% will der Nationalrat nur in der beruflichen Vorsorge (2. Säule) kompensieren, anders als der Ständerat: Dieser wollte die AHV-Einzelrenten um 70 Franken erhöhen und den Plafonds für Ehepaar-Renten von 150 auf 155% der Einzelrente anheben. Der Nationalrat lehnte das ab. Was sagst du dazu?

Doris Bianchi: Immerhin will der Nationalrat das Rentenniveau erhalten, doch bläht er dafür die berufliche Vorsorge richtiggehend auf: Wer mehr als 21'150 Franken verdient, soll neu auf dem ganzen Lohn versichert sein, denn der Koordinationsabzug von 24'675 Franken wird abgeschafft. Wer 30'000 Franken verdient, bezahlt also neu auf 30'000 Franken Pensionskassenbeiträge statt auf 5325 Franken. Wer aber weniger als 21'150 Franken verdient, bleibt aus der beruflichen Vorsorge weiterhin ausgeschlossen. Zudem steigt der Beitragssatz für 25- bis 45-Jährige um 4% auf 9%. Ab Alter 45 sinkt er leicht, doch auch hier steigt die Beitragslast, weil der Koordinationsabzug wegfällt. Auf einem Lohn von 70'000 Franken muss man künftig pro Jahr rund 1500 Franken mehr Pensionskassenbeiträge bezahlen.

Was heisst das für die Versicherten?

Ihr Nettolohn sinkt massiv, und auch die Arbeitgeber müssen entsprechend mehr bezahlen, obwohl sie z.B. in Gewerbe und Gastronomie wenig Spielraum haben. Das Ganze läuft auf wesentlich höhere Lohnnebenkosten hinaus: Diese steigen gesamtschweizerisch um über ein Prozent. Es erstaunt ja schon, dass dies genau jene Parteien wollen, die höhere Lohnnebenkosten sonst immer ablehnen. Die Lohnabzüge steigen auch bei Pensionskassen, die überobligatorische Anteile versichern wie die Pensionskasse SBB, weil auch hier der obligatorische Anteil grösser wird.

Kann diese Beitragserhöhung das bisherige Rentenniveau wirklich sichern?

Kaum, denn das Pensionskassenkapital wirft zurzeit nur miserable Erträge ab. In der heutigen Tiefzinssituation ist ein Beitragsfranken in der AHV effizienter eingesetzt als in der 2. Säule. Das sagen auch Wirtschaftsprofessoren wie Heinz Zimmermann von der Universität Basel. Eine vernünftige Rentenpolitik müsste darauf abzielen, den Beitragsfranken möglichst effizient einzusetzen.

Trotzdem will der Nationalrat die 2. Säule aufblähen. Wer profitiert davon?

Die Aufblähung der Pensionskassengelder vergrössert den Futtertrog für all jene, die damit Geld verdienen: Banken, Versicherungen, Pensionskassenverwalter, Anlageexperten, Broker usw. Bis heute sind in der 2. Säule schon über eine Billion Franken angespart worden. Allein die Lebensversicherer können Jahr für Jahr über 600 Mio. Franken an garantierten Gewinnen abkassieren.

Diese Gewinne wollte der Bundesrat mit strengeren Vorschriften beschränken…

Ja, aber der Nationalrat hat strengere Vorschriften abgelehnt und auch sonst alles getan, damit die Versicherer an der 2. Säule weiterhin schön verdienen können: mehr Pensionskassenbeiträge und ein tieferer Umwandlungssatz, also tiefere Renten… Der Nationalrat will den Versicherern sogar erlauben, den Versicherten zusätzliche Beiträge abzuverlangen dafür, dass ein Umwandlungssatz von 6% angeblich immer noch zu Pensionierungsverlusten führe. Solche Beiträge werden den Versicherten heute schon im Versteckten über zu hohe Risikobeiträge abgenommen, denn diese liegen weit über den effektiv bezahlten Leistungen. Diesen Missbrauch wollte der Bundesrat stoppen, doch der Nationalrat wollte davon nichts wissen. Dank diesen neuen Zusatzbeiträgen könnten die Versicherer künftig sogar auf überhöhte Risikobeiträge verzichten.

Die 40,6% Ja-Stimmen zu AHVplus am 25. September hatten leider zu wenig Gewicht, um den Nationalrat dazu zu bringen, die AHV zu stärken. Laut einer Befragung stimmten viele Nein, weil ihnen der Glaube fehlte, dass höhere AHV-Renten finanzierbar wären. In der Tat kommt nun die Generation des «Babybooms» von 1945 bis zum «Pillenknick» 1963 ins Pensionsalter: Droht der AHV der Kollaps?

Nein, aber sie braucht ein zusätzliches Mehrwertsteuer-Prozent, um den Anstieg der Neurentner/innen zu meistern. Das ist für die Schweiz völlig verkraftbar. Der Nationalrat aber stellt der AHV vorerst nur 0,6% mehr MwSt zur Verfügung: 2018 die 0,3%, die bisher der IV zukamen, und 0,3% im Jahr 2021. Das ist zu wenig, um die AHV-Renten über das ganze nächste Jahrzehnt auszufinanzieren. Es braucht weitere 0,4%, sonst läuft die AHV in eine Unterdeckung. Darauf spekuliert die Rechte aber gerade. Sie will die AHV mit einer Politik der leeren Kasse aushungern, um das Rentenalter 67 durchzubringen. Dieses soll automatisch kommen, falls der Stand des AHV-Fonds unter 80% einer Jahresausgabe fällt. Erst verbunden mit der Rentenaltererhöhung will der Nationalrat der AHV die fehlenden 0,4% MwSt 2035 und 2038 zugestehen.

Der Nationalrat hat das Rentenalter 67 also vorprogrammiert?

Genau. Dieses soll automatisch kommen. Das Volk hätte dazu nichts mehr zu sagen, denn ein Referendum wäre nicht mehr möglich. Das ist Technokratie pur. So wird in der EU regiert. In der Schweiz aber haben wir eine direktdemokratische Tradition: Über so wichtige Dinge wie das Rentenalter wollen wir abstimmen können.

Der Ständerat wollte der AHV schon vor 2030 1% MwSt zugestehen, der Bundesrat 1,5%. Im Nationalrat hat die Rechte nun argumentiert, zu viel MwSt-Erhöhung sei unsozial…

Tatsächlich trifft die MwSt auch die tiefen Einkommen. Doch wenn sie für die Finanzierung der AHV-Renten verwendet wird, ist sie nicht unsozial, weil sie so den tieferen Einkommen wieder besonders zugutekommt, und damit der grossen Mehrheit. Und weil die pensionierten Babyboomer selber MwSt bezahlen, ist sie eine faire Sache.

Der Nationalrat hat auch einer Motion zugestimmt, die den Mindestumwandlungssatz und den Mindestzinssatz der beruflichen Vorsorge «entpolitisieren» will: Diese Sätze will die Motion künftig dem Referendum entziehen. Was würde das genau heissen?

Es ist unklar, was das genau bedeuten würde: Soll auch der Mindestumwandlungssatz vom Bundesrat festgelegt werden? Oder von irgendeinem Expertengremium oder den Kassen selber, nach einer mathematischen Formel? Dies würde bedeuten, dass die Kassen kein Obligatorium mehr einhalten müssten und dass die Versicherten kein Anrecht mehr auf eine definierte Leistung hätten. Damit gäbe es keine obligatorische berufliche Vorsorge mehr. Fakt ist aber, dass die Bundesverfassung verlangt, dass die Renten aus AHV und Pensionskasse die «Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise» ermöglichen sollen. Also müssen wir dieses Leistungsziel erfüllen, unabhängig von technischen Formeln.

Beide Räte wollen das Frauenrentenalter 65: Kann man heute noch gegen diese «Gleichstellung» sein?

Wenn man beim Rentenalter Gleichstellung wollte, müsste man zuerst endlich dafür sorgen, dass die Renten der Frauen nicht mehr wie heute durchschnittlich 37% tiefer sind als die Renten der Männer. Dies ist zurückzuführen auf die tieferen Löhne der Frauen und ihre Pensionskassenlücken wegen der Kinderbetreuung. Deshalb ist die Erhöhung des Frauenrentenalters keine Gleichstellung, sondern eine Sparmassnahme auf dem Rücken der Frauen, von denen es heute schon viele schwer haben, bis 64 zu arbeiten.

Der Nationalrat will auch die Witwenrente verschlechtern, anders als der Ständerat…

Ich finde es eine Frechheit, dass man Witwen mit erwachsenen Kindern die Rente streicht mit der Begründung, sie hätten ja keine Einbusse, sie könnten ja arbeiten. Der ganze Erwerbsausfall, den sie gehabt haben, weil sie Kinder grossgezogen haben, wird einfach vergessen. Dies zeigt, wie gewisse Nationalräte die Realität ausblenden.

Der Nationalrat will das Rentenalter bis 70 flexibilisieren. Birgt dies die Gefahr, dass man weiterarbeiten muss, um auf eine anständige Rente zu kommen?

Bei diesem Pensionierungsfenster bis 70 sehe ich grosse Gefahren. Die Pensionskassen sind ja daran, ihre Umwandlungssätze immer weiter zu senken, und könnten ihren Versicherten sagen: «Wenn du einen guten Umwandlungssatz willst, musst du bis 68 oder 69 arbeiten.» Der Druck, länger zu arbeiten, damit die Rente nicht zu klein ausfällt, ist schon jetzt vorhanden.

Werden wir künftig länger arbeiten müssen, weil wir immer länger leben?

Das Rentenalter hat weniger mit der Lebenserwartung zu tun als mit dem Arbeitsmarkt. Solange Leute über 50 kaum mehr eine Stelle finden und Leute mit 55 Jahren ausgesteuert werden, bevor sie in Pension gehen, macht eine generelle Erhöhung des Rentenalters keinen Sinn. Es ist eine Frage der Arbeitsplätze, und es ist heute nicht so, dass jeder problemlos bis 65 arbeiten könnte. Es gibt eine kleine Quote von Leuten, die über 65 weiterarbeiten, doch sind dies Ärzte, Anwälte, Kaderleute. Wer länger arbeiten will und vom Arbeitgeber diese Möglichkeit kriegt, soll doch, aber das ist nicht die grosse Masse. Bei vielen ist die Firma froh, wenn sie in Pension gehen. Es gibt auch Junge, die Mühe haben, den Einstieg ins Berufsleben zu schaffen, und froh sind, wenn ein Arbeitsplatz frei wird. Zudem ist es wertvoll für die Gesellschaft, wenn sich Rentner/innen für die Allgemeinheit unbezahlt nützlich machen. Nicht zu vergessen ist, dass etwa ein Drittel der Leute über 60 gesundheitliche Probleme haben und daher jetzt schon kaum bis 65 durchhalten können.

Welche Korrekturen muss der Ständerat mindestens vornehmen, damit die Rentenreform akzeptabel wird?

Die Renten aus der 1. und 2. Säule müssen für ein würdiges Leben im Alter reichen. Dieses Ziel verfehlt die Vorlage des Nationalrats klar, denn mit ihr müssten alle massiv mehr einzahlen, gerade auch die Jungen, und länger arbeiten, ohne dass die Renten besser werden. Stattdessen muss die AHV gestärkt werden, weil dort der Beitragsfranken effektiver eingesetzt ist. Einer automatischen Rentenalter-Erhöhung kann der SGB sicher nicht zustimmen, und auch nicht einer Vorlage, die den Versicherten nur Verschlechterungen bringt, während die Finanzbranche an der 2. Säule weiter gut verdient.

Markus Fischer

 

Zusammenfassung: Nationalrat will 2. Säule aufblähen und Rentenalter 67 erzwingen
Der Nationalrat hat die knapp akzeptable ständerätliche Vorlage zur «Altersvorsorge 2020» für Arbeitnehmenden völlig inakzeptabel gemacht. Zwar will nun auch die Rechte (angeblich) darauf hinarbeiten, dass die Renten trotz der geplanten zwölfprozentigen Senkung des Mindestumwandlungssatzes nicht sinken. Doch anders als der Ständerat, der zu diesem Zweck auch die AHV-Beiträge und -Renten moderat erhöhen wollte, will der Nationalrat allein die Pensionskassenbeiträge massiv erhöhen – trotz der heutigen Tiefzinssituation, in der Kapitalanlagen keine Erträge abwerfen. Daher ist fraglich, ob diese schmerzhaften Lohnabzüge die Renten wirklich stützen können; sie wären in der AHV effizienter eingesetzt. Gerade Junge sollen viel mehr bezahlen als heute, samt ihren Arbeitgebern. Und alle, nicht nur die Frauen, sollen länger bezahlen: Dafür soll eine Schuldenbremse bei der AHV sorgen, die das Rentenalter auf 67 Jahre erhöht – und sicher greift: Dies, weil der Nationalrat der AHV die Mehrwertsteuereinkünfte verweigert, die sie für die Babyboomer-Rentner/innen braucht. Fi

Bio

Doris Bianchi (41) wuchs in Reinach BL auf. Ihre Eltern waren aus Umbrien (Italien) eingewandert. Nach der D-Matur (Neusprachen) machte sie eine kaufmännische Ausbildung, studierte an der Uni Basel Jus, doktorierte und engagierte sich in der Uni-Politik. Seit 12 Jahren arbeitet sie beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund, wo sie heute für die Sozialversicherungen verantwortlich ist. Sie hat zwei Kinder, wohnt mit ihrer Familie in Bern und nutzt ihre Freizeit vor allem zum Lesen.