Ausblick auf 2012 mit SEV-Präsident Giorgio Tuti
«Die Weiterentwicklung der Gesamtarbeitsverträge ist unser absolutes Kerngeschäft»
Ausbau der Gesamtarbeitsverträge, Sicherung der Sozialwerke und weitere Stabilisierung des Mitgliederbestandes: Das sind die Schwerpunkte, die für Giorgio Tuti im neuen Jahr zuoberst auf der Agenda stehen.
kontakt.sev: Zuerst ein kurzer Blick zurück: Was war für dich der Höhepunkt als SEV-Präsident im Jahr 2011?
Giorgio Tuti: Klarer Höhepunkt war der Kongress. Erstmals haben wir einen eintägigen Kongress durchgeführt, alles Nötige in einem Tag behandelt und nach interessanten Diskussionen zukunftsträchtige Entscheide gefällt.
Und sonst?
Sehr wichtig und erfolgreich war die Mitgliederwerbung! Weiter ist der Dauerbrenner Pensionskasse SBB vorangekommen mit der Zahlung von 1,48 Milliarden des Bundes. Und nicht zuletzt: Wir haben mit der SBB einen neuen GAV umgesetzt und auch eine Vereinbarung getroffen über die Schaffung von Nischenarbeitsplätzen.
Und was wird der Höhepunkt 2012?
Die Weiterentwicklung der Gesamtarbeitsverträge, das ist unser absolutes Kerngeschäft. Ich erinnere daran, dass dieses Geschäft für den SEV relativ neu ist: Erst 2001 wurden erste GAV im öffentlichen Verkehr abgeschlossen, und inzwischen haben wir es geschafft, dass praktisch alle Unternehmen einem GAV unterstehen. Wir wollen dies auf allen Ebenen vorantreiben: Unternehmen, kantonal/regional und gesamtschweizerisch. Der Gesamtarbeitsvertrag ist unser Instrument zur kollektiven Regelung der Anstellungsbedingungen, damit handeln wir wie mit nichts anderem im Interesse unserer Mitglieder. Dieses Jahr gibt es Verhandlungen bei BLS und RhB, also den Nummern 2 und 3 der Schweizer Bahnen!
Was ist zurzeit deine grösste Sorge?
Die Finanzkrise hat zu einer Wirtschaftskrise geführt, die Folge ist eine depressive Stimmung in der gesamten Arbeitswelt. Ich mache mir grosse Sorgen um die Situation der Pensionskassen. Es zeigt sich, dass die Zweite Säule ein Schönwettersystem ist, das in dieser Situation den Zweck nicht mehr erfüllt. Die Alternative ist der Ausbau der AHV.
2012 dürfte aber doch eher ein ruhiges Jahr werden: Der SBB-GAV läuft noch bis 2014, und bei Toco geht es nur noch um letzte Umsetzungsfragen.
So einfach wird das nicht! Toco ist längst nicht abgeschlossen, da müssen wir mit der SBB noch vieles bereinigen. Wie gesagt haben wir zwei grosse GAV zu verhandeln, was ebenfalls grosse Brocken sind. Wir wollen im Weitern die Zusammenarbeit mit den Personalkommissionen verstärken. Dann kommt aber die politische Arbeit hinzu: Die Sicherung der Sozialwerke und die Finanzierung des öffentlichen Verkehrs sind zentrale Themen dieses Jahres; da werden wir uns stark einbringen müssen, um die Interessen unserer Mitglieder zu vertreten.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Verkehrs sind weitgehend über Gesamtarbeitsverträge recht gut abgesichert. Wie wirken sich die Pläne des Bundes zum Abbau bei den Sozialwerken auf sie aus?
Das sind zwei ganz verschiedene Sachen. Tatsächlich können wir mit Gesamtarbeitsverträgen die Arbeits- und Anstellungsbedingungen beeinflussen. Aber Verschlechterungen bei AHV, IV und 2. Säule treffen alle; das können wir nicht über die GAV korrigieren, sondern wir müssen uns politisch engagieren!
Was gilt es zu tun?
Zusammen mit dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund werden wir den Abbau bekämpfen, wo nötig auch mit Referenden oder Initiativen. Wir werden auch eigene Ideen einbringen, dies auf der Basis von AHV-plus. Das heisst, wir erwarten eine Stärkung der AHV vor allem für die untern Einkommen, um allen Bevölkerungsschichten die Fortführung der Lebensqualität im Alter zu sichern.
Schauen wir auf den SEV als Organisation. Seit dreieinhalb Jahren stehst du an der Spitze. Bist du mit der Entwicklung in dieser Zeit zufrieden?
Ja; ich orientiere mich an zwei Grössen: der Mitgliederzahl und der Qualität der Gesamtarbeitsverträge. Beide entwickeln sich in eine gute Richtung. Wir sind noch nicht am Ziel, aber doch auf einem guten Weg!
Wie hat sich die neue Organisation mit Geschäftsleitung und Vorstand bewährt?
Es läuft immer besser, die neuen Organe haben ihre Rolle gefunden. Wir sind strategisch weitergekommen. Wir werden weiter über den Weg des SEV sprechen müssen. Ich erwarte gute Diskussionen und zukunftsgerichtete Entscheidungen zum Wohl des gesamten SEV.
Was erwartest du vom neuen Finanzverwalter, der in einigen Wochen bestimmt wird und seine Arbeit Mitte Jahr aufnehmen wird?
Er oder sie muss fachlich top sein und gleichzeitig ins Team passen, denn er oder sie ist Mitglied der Geschäftsleitung und trägt somit an der Verantwortung für die Gesamtorganisation mit.
Der SEV ist die einzige bedeutende Gewerkschaft im öffentlichen Verkehr. Er steht aber in einem Partnerschaftsund gleichzeitig Konkurrenzverhältnis zu vielen andern Personalorganisationen. Bist du mit der heutigen Situation zufrieden?
Jeder Verband ist unabhängig. Wo es ums Wohl des Personals geht, bilden wir eine Zweckgemeinschaft, in der es darauf ankommt, eine gemeinsame Position zu finden und mit einer Stimme zu sprechen. So treten wir gestärkt gegenüber Arbeitgebern und Behörden auf.
Wo siehst du den SEV innerhalb der Schweizer Gewerkschaftslandschaft?
Bei meinem Antritt standen die internen Reformen des SEV im Vordergrund. Wir haben uns modernisiert, um an Attraktivität zu gewinnen. Damit verbessern wir auch unsere Position nach aussen. Wir haben unsere Position im Schweizerischen Gewerkschaftsbund verstärkt. Der SEV hat heute seinen Platz in der Gewerkschaftsbewegung. Daran werden wir weiter arbeiten und gleichzeitig für die Zukunft alle Optionen offenhalten.
Zum Schluss bitte eine Prognose: Wie viele Mitglieder zählt der SEV am 1. Januar 2013?
Ich wage keine Prognose. Wir konnten in den letzten Jahren den Mitgliederverlust stark bremsen, dank gutem Engagement der Kolleginnen und Kollegen vor Ort, die gut werben. Andererseits verlieren wir weiterhin viele pensionierte Mitglieder durch den Tod, was wir nicht komplett ausgleichen können. Eine Zahl kann ich deshalb nicht nennen, aber ich erwarte, dass der Trend der letzten Jahre anhält.
Fragen: Peter Moor
LIEBER FUSSBALL-EM ALS OLYMPIA
kontakt.sev: Du warst letztes Jahr für einen Sprachaufenthalt in London. Hättest du dieses Interview nun lieber auf Englisch geführt?
Giorgio Tuti: Nein, wenn in einer andern Sprache, dann schon am liebsten auf Italienisch!
Was für einen Eindruck hattest du von der Stadt?
London ist sehr gross! Ich finde diese Stadt interessant und wirklich wunderschön.
Im Sommer sind die Olympischen Spiele. Ein Grund, nochmals hinzufahren?
Nein; wenn ich eine solche Gelegenheit hätte, würde ich doch lieber im Juni an die Fussball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine reisen!
Wo verbringst du denn die Ferien im nächsten Sommer?
Das weiss ich noch nicht. Die Koordination in unserer Familie ist schwieriger geworden; die ältere Tochter hat eine Lehre begonnen. Deshalb planen wir jeweils kurzfristig.
Welches ist dein privates Ziel für 2012?
Die privaten Ziele haben es an sich, dass sie privat sind …
pmo