CARTE bLANCHE: Pierre-Yves Maillard
100 Jahre SEV oder die Geschichte der Arbeiterbewegung
Entstanden im Nachhall des Nationalstreiks von 1918, hat der SEV in seiner langen Geschichte alle grossen Debatten miterlebt, die die Schweiz im 20. Jahrhundert und zu Beginn des neuen Jahrtausends bewegt haben. Es war ein Kampf ohne seinesgleichen, in dem der Traum vom schnellen sozialen Fortschritt auf breit angelegte Unterdrückung und Verleumdung geprallt ist, der den Willen der Berufsverbände der Bahnen und des öffentlichen Verkehrs zum Zusammenschluss bekräftigt hat.
Die darauf folgenden Jahrzehnte waren nicht frei von Spaltungsgefahren und internen Konflikten. Die Berufsgruppen pflegten ihre Eigenheiten ebenso sehr wie der Berufsalltag unterschiedlich blieb. Heftige Auseinandersetzungen trafen auch die Gewerkschaften in den Zeiten der Einwanderungswellen und der Schwarzenbach-Initiativen, und erneut, als die Frauen sich ihren Platz in den ihnen zuvor verwehrten Berufen holten. Meistens folgte der SEV am Schluss einer fortschrittlichen Linie, was dessen Verankerung im Schweizerischen Gewerkschaftsbund stärkte. Das war nicht zwingend. Nachdem das Bahnpersonal beim Landesstreik seine Kampfkraft unter Beweis gestellt hatte, stand es in den folgenden Jahrzehnten unter strenger Beobachtung der Bundesbehörden. Die starke gewerkschaftliche Abstützung und die Fähigkeiten seiner Verhandlungsführer haben zu einer fortlaufenden Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zur vollständigen Eingliederung ins Bundespersonal geführt. Die neoliberale Welle der 90er Jahre hat dann eine Gegenbewegung eingeleitet. Die insgesamt positive Entwicklung hätte dazu führen können, dass die Solidarität des SEV mit den andern gewerkschaftlichen Kräften nachlässt, insbesondere mit jenen, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Privatwirtschaft vertreten. Aber das war nicht der Fall. Ganz im Gegenteil: Der SEV ist zu einer starken und zentralen Stütze des SGB geworden.
Auffällig in der Geschichte des SEV ist seine demokratische Stärke, verbunden mit einer dezentralen Struktur und grosser Autonomie innerhalb der Organisation. Diese einzigartige Organisation ist zweifellos die Erklärung dafür, dass gelegentlich fortschrittliche Positionen des SGB zu heftigen Diskussionen führten. Denn diese basisnahe Organisation war immer verbunden mit einem hohen Organisationsgrad und entsprechend einer grossen gesellschaftlichen und politischen Bandbreite. Aber diese basisdemokratische Kultur hat den gewerkschaftlichen und solidarischen Charakter des SEV gestärkt, und das zählt.
Jede Gewerkschaft hat ihre eigene Geschichte, ihre Kultur und die Organisation, die ihren besonderen Bedürfnissen entspricht. Der SGB respektiert diese unterschiedlichen Kulturen. Er braucht auch in Zukunft, wie in den vergangenen hundert Jahren, einen lebendigen und kämpferischen SEV. Im Interesse der Männer und Frauen des öffentlichen Verkehrs, aber auch der gesamten Arbeitswelt, die um die Stärke der Solidarität jener weiss, die zu jeder Tages- und Nachtzeit den Verkehr von Gütern und Personen im ganzen Land in Fahrt halten.