Interview mit Giorgio Tuti
1. Mai: Mut zum Kampf
Nochmals zwingt uns die Corona-Pandemie zu einem 1. Mai, der nicht so ist, wie wir ihn gewohnt sind und wie wir ihn gerne hätten: ohne Bühnen, Lautsprecher, volle Plätze und Umarmungen. Ein Fest, das viele ohne Arbeit feiern. Die Pandemie hat unser Leben durcheinandergebracht und wird auf dem Arbeitsmarkt tiefe Spuren hinterlassen. Ein Überblick mit Giorgio Tuti, Präsident des SEV und Vizepräsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.
Giorgio, was ist für dich im Moment das Wichtigste?
Es geht jetzt darum, die Arbeit zu schützen, die Arbeitnehmer/innen, ohne auch nur einen einzigen zurückzulassen. Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist, in den Service public zu investieren, der aus sich heraus auch den sozialen Zusammenhalt des Landes garantiert. Es gilt auch, in Personen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zu investieren. Auch mit der Digitalisierung steht weiterhin der Mensch im Mittelpunkt. Wenn wir eine tragfähige Zukunft aufbauen wollen, müssen wir für die Sicherheit der Arbeit und der Arbeitsplätze sorgen. Denn Sicherheit bedeutet auch Stabilität. Um das ganze Land wieder auf die Beine zu bringen, brauchen wir den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das gelingt, wenn die Rechte aller – und nicht nur einzelner – geachtet werden, beispielsweise mit guten Arbeitsbedingungen.
«Ein Tag für alle, die die Arbeit leben, die in die Zukunft vertrauen, die mutig kämpfen», sang Giorgio Gaber. Was bedeuten seine Worte für dich?
Für jemanden, der wie ich italienische Wurzeln hat, sind die Lieder von Giorgio Gaber eine Art politisches Manifest. Arbeit, Zukunft, Mut sind drei Worte, die mitten in die Gewerkschaftsbewegung treffen. Um aus der Krise herauszukommen, werden wir alle viel Mut brauchen, denn die Zukunft erwartet uns mit Risiken und Ungewissheiten. Ich bin sicher, dass sich auch neue Möglichkeiten ergeben, aber die Zukunft der Arbeit müssen wir jetzt anpacken. Digitalisierung, Pensionierung der Baby-Boom-Generation, Klimawandel: Das sind drei der Achsen, auf denen sich die Gewerkschaftsbewegung ausrichten muss. Sie betreffen auch den öffentlichen Verkehr. Die Digitalisierung, die die Heimarbeit fördert, erfordert Überlegungen über die Arbeitsbedingungen und deren Schutz. Die Pensionierung der Baby-Boomer betrifft nicht nur die Altersvorsorge, sondern auch die Arbeitsplätze im Generationenwechsel, den wir mitgestalten müssen. Der öV ist gefordert, um eine wesentliche Rolle beim Klimawandel zu spielen, denn er ist ein Teil der Lösung. Mit Blick auf den Klimastreik bringt sich der SEV mit seinem Wissen und seiner Erfahrung aktiv ein.
Die Klimafrage ist auch ein Thema auf europäischer Ebene. Wie siehst du als Präsident der Bahnsektion des ETF die Zukunft?
Für mich als Gewerkschafter ist und bleibt die Arbeit im Zentrum. Auch beim «New Green Deal», der sich in Europa aus Anlass des «Jahres der Schiene» weiter entwickelt, bleiben die Arbeit und die Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt der Herausforderungen. Aus ökologischer Sicht muss die Bahn sowohl im Güter- als auch im Personenverkehr massiv gefördert werden. Die Wettbewerbsbedingungen im Transportsektor müssen zugunsten der Bahn verschoben werden. Die Verkehrsindustrie wird entsprechend mehr Personal brauchen, nicht nur wegen der Bevölkerungsentwicklung, sondern auch wegen des Wachstums. Sie wird die Leute aber nur finden, wenn sie sichere Arbeitsplätze mit fairen Löhnen und guten, zukunftsträchtigen Arbeitsbedingungen anbietet.
Am internationalen Tag der Arbeit sollten wir auch über den Gartenhag hinausschauen …
Wir sehen es Tag für Tag: Die Pandemie ist nicht nur ein Gesundheitsnotstand, sondern auch eine grosse Wirtschaftskrise, die die Bevölkerung weltweit stark belastet. Nach vorläufigen Prognosen der Internationalen Arbeitsorganisation IAO könnte diese Krise die Arbeitslosigkeit weltweit um bis zu 25 Mio. Personen ansteigen lassen; die Prognosen bewegen sich zwischen 5,3 und 24,7 Millionen, die zu den 188 Mio. Menschen ohne Arbeit im Jahr 2019 hinzukommen. Die soziale Krise ist da! Vergessen wir nicht, dass auch in der Schweiz die Coronakrise die beruflichen Aussichten drastisch verschlechtert hat. In der Schweiz bleibt die Arbeitslosigkeit tief, aber im Januar hat sie den Höchststand seit Frühling 2020 erreicht: Sie lag bei 5 % nach der IAO-Berechnung und 3,7 % nach der engeren Definition des Seco, das nur Personen berücksichtigt, die auf einem Arbeitsamt gemeldet sind. Sorgen macht vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit, die in vielen Ländern stark ansteigt: eine echte Zeitbombe. Die Werte steigen auch in unseren Nachbarländern (Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien) an, und das kann sich auch auf unsere Wirtschaft stark auswirken. Deshalb muss die Gewerkschaftsbewegung klare Prioritäten setzen, nämlich beim Schutz der Arbeitnehmer/innen am Arbeitsplatz, bei der Unterstützung der Wirtschaft und der Arbeitsplatznachfrage, beim Schutz der Arbeit und der Einkommen sowie bei der Suche nach gemeinsamen Lösungen im sozialen Dialog.
In dieser ungewissen Situation ist es auch für den SGB nicht einfach, den 1. Mai zu planen …
Die Coronakrise hat uns gelehrt, dass langfristige Planung schwierig ist. Von einem Monat zum andern kann alles ändern. Da wir den Schutz der Gesundheit als vorrangig erachten, dürfen wir nur mit grosser Vorsicht handeln. Die Diskussionen in der SGB-Führung gehen weiter. Es ist so, dass wir uns für den Moment einfach an die Feiern der früheren Jahre mit den voll gefüllten Plätzen erinnern müssen. Wir überlegen uns eine Mischung aus digitalen Anlässen und sehr begrenzten Anlässen vor Ort.
Françoise Gehring / Übersetzung Peter Moor
1. Mai-Programm
Plattform des SGB: www.mai2021.ch
Hier gibt es ab 14.00 Uhr Online-Live-Berichte von den Aktionen vor Betrieben und auf zentralen Plätzen mit Video-Interventionen führender Persönlichkeiten, u.a. Simonetta Sommaruga, Pierre-Yves Maillard und Cédric Wermuth.