Fragen an Paul Blumenthal, Leiter der Expertengruppe Organisation Bahninfrastruktur
«Die Eisenbahnerfamilie wird nicht aufgeteilt»
Für Paul Blumenthal macht eine Spaltung der Schweizer Bahnen in Infrastruktur- und Verkehrsbetriebe keinen Sinn. Mittelfristig müssen sie sich aber eine EU-kompatible Holding-Struktur geben.
kontakt.sev: Wie viel Markt ist bei der Bahninfrastruktur wünschbar?
Paul Blumenthal: Grundsätzlich verträgt sich Bahninfrastruktur überhaupt nicht mit Markt, denn sie ist ein öffentliches Gut mit komplexen Anforderungen, zum Beispiel an die Sicherheit. Das englische Beispiel vor 20 Jahren hat gezeigt, dass Privatisierung und Wettbewerb schnell zum Kollaps des Systems führen. Stücke davon auszuschreiben und durch die am günstigsten offerierenden Firmen betreiben zu lassen funktioniert nicht. Im übrigen ist die Bahninfrastruktur eine bestellte Leistung mit klaren politischen Entscheiden und einer Finanzierung aus öffentlichen Mitteln.
Wie stehen Sie zu Public- Private-Partnership?
Das ist ein Finanzierungsthema, das wir in der Expertengruppe nicht genauer anzuschauen hatten. Man kann sich die Frage stellen, ob PPP eine Möglichkeit wäre, falls nicht mehr genügend öffentliche Mittel für den Ausbau der Bahninfrastruktur vorhanden sein sollten. Doch muss man sich bewusst sein, dass Investitionen in die Bahninfrastruktur nie rentabel sein können, ausser wenn die Verkehrsunternehmen auf der Schiene viel höhere Trassengebühren bezahlen würden. Das ist aber völlig unrealistisch, weil am Ende die Kunden mit massiven Preissteigerungen zur Kasse gebeten würden.
Ist Ihre Expertengruppe auf Fälle gestossen, wo Bahnunternehmen beim Zugang zum Schweizer Schienennetz diskriminiert wurden?
Auf wirkliche Diskriminierungen sind wir in den Hearings nicht gestossen. Auch die Schiedskommission im Eisenbahnverkehr (SKE) hat bisher nur wenige solche Beschwerden behandeln müssen. Was uns als Diskriminierungen präsentiert wurde, waren vor allem Themen wie Trassenpriorisierungen zugunsten des Personenverkehrs zulasten des Güterverkehrs,was gesetzlich so festgeschrieben ist. Des weiteren wurde marktbeherrschendes Verhalten grosser Bahnen beanstandet, wofür die Wettbewerbskommission zuständig wäre. Beides hat aber nichts zu tun mit Diskriminierungen durch einen monopolistischen Netzbetreiber, der auch als Verkehrsunternehmen tätig ist und daher Konkurrenten beim Netzzugang benachteiligt. Dass solche Diskriminierungen bisher ausgeblieben sind, liegt vor allem daran, dass der Wettbewerb auf dem Schweizer Bahnnetz beim Personenverkehr bisher gleich Null ist. Doch Diskriminierungspotenziale gibt es in unserem heutigen System sehr wohl. Und ab dem Moment, wo die Wettbewerbsintensität zunimmt, steigt die Verlockung, Mitbewerber zu benachteiligen. Um dies zu verhindern, braucht es einen besseren regulatorischen Rahmen mit klaren Spielregeln dh einer völlig unabhängigen Trassenvergabestelle und einem starken Regulator «Railcom».
In Österreich wird ja die ÖBB zwischen Wien und Salzburg durch die neue Westbahn konkurrenziert: Hat die ÖBB Infrastruktur AG versucht, die Westbahn zu diskriminieren?
In diesem Zusammenhang ist mehrfach der Regulator angerufen worden, doch hat dieser keine Fälle von Diskriminierung festgestellt, etwa was die Trassenzuteilung betrifft. Die ÖBB muss als integrierte Unternehmung extrem aufpassen, dass über die Infrastruktur keine Diskriminierungen stattfinden, da solche blitzartig die Gerichte beschäftigen und durch teure Sanktionen geahndet würden, die das österreichische Regulatorsystem vorsieht. Daneben gab es Dutzende von Klagen der Westbahn gegen die ÖBB wegen marktbeherrschendem Verhalten, die zum Teil immer noch laufen. Das Beispiel zeigt, dass das Spiel viel ernsthafter wird, sobald der Wettbewerb zunimmt.
Um Diskriminierungen beim Netzzugang zu verhindern, will die EU-Kommission im vierten Bahnpaket grundsätzlich eine vollständige Trennung von Infrastruktur und Verkehr vorschreiben …
Falsch: Im aktuellen Entwurf für das vierte Bahnpaket wird keine vollständige Trennung verlangt, sondern weitreichende Marktöffnungen im Personenverkehr. Integriert geführte Bahnen sollen in einem Holding-Modell weiterhin möglich sein, zumindest für eine Übergangszeit. Allerdings sieht die EU-Kommission unmögliche Auflagen für die Unabhängigkeit der Infrastruktur von den Verkehrsunternehmen innerhalb der Holding vor. Beispielsweise sollen Mitarbeitende aus dem anderen Bereich erst nach einer Sperrfrist von drei Jahren angestellt werden dürfen. Im EU-Entscheidungsprozess werden die betroffenen Bahnen wie DB, FS oder SNCF aber darauf hinwirken, dass diese Auflagen wieder etwas realistischer werden. Auch will die EU-Kommission keine neuen Holdings mehr zulassen …
Sind die Vorschläge der Expertengruppe kompatibel mit der Bahnpolitik der EU?
Ja. Wir haben mit unserem Bericht, den der Bundesrat auf den Frühling 2012 bestellt hatte, absichtlich zugewartet, bis der Entwurf für das vierte Bahnpaket vorlag. Und der Europäische Gerichtshof hat ja im Februar dieses Jahres die Zulässigkeit der Holding-Modelle DB und OeBB bestätigt.
Würde eine strikte Trennung überhaupt Sinn machen?
Die Expertengruppe kam einstimmig zum Schluss, dass im heutigen Stadium des Bahnwettbewerbs in der Schweiz die integriert geführte Bahnunternehmung mehr Vor- als Nachteile bringt. Sie garantiert, dass das Schweizer Bahnsystem seine hohe Qualität halten kann, insbesondere den Taktfahrplan und die dichte Netzauslastung. Denn mit der Trennung hat man etwa in Schweden die Erfahrung gemacht, dass damit die Qualität des Systems für die Kunden spürbar sinkt und erst nach mehreren Jahren wieder das gleiche Niveau erreicht wie vorher, weil viele Prozesse neu erfunden werden müssen. Für den wettbewerbsintensiven Güterverkehr brauchen wir einen klareren regulatorischen Rahmen, doch ist dieser auch ohne Trennung realisierbar. Die Eisenbahnerfamilie wird also nicht aufgeteilt!
Interview: Markus Fischer
Verstärkte Kooperation statt Zusammenlegung der Bahnnetze
kontakt.sev: Welche Vor- und Nachteile hätte eine Zusammenlegung der Normalspurnetze von SBB, BLS und SOB?
Paul Blumenthal: Es gibt Vorteile, die durch Grösse erzielt werden können, zum Beispiel beim Einkauf oder bei der Professionalität des Infrastrukturmanagements. Auf der andern Seite gibt es auch Vorteile aus der regionalen Nähe kleiner Infrastrukturbetreiber und aus deren Kreativität für preisgünstige passende Lösungen – das muss man ganz klar hervorheben. Für ein gutes Infrastrukturmanagement und einen langfristig effizienten Einsatz der Mittel braucht es auf jeden Fall hohe Professionalität, und diese kann sich eine grosse Unternehmung besser sichern, da sie sich eher Spezialisten für einzelne Fachgebiete leisten kann. Diesbezüglich liegt das Hauptproblem aber nicht bei den drei angesprochenen Bahnen, sondern bei den kleineren Normalspurbahnen, die ein viel kleineres Netz betreiben als beispielsweise eine BLS.
Im Vordergrund steht für die Expertengruppe nicht eine Zusammenlegung aller Normalspurnetze, sondern die Einführung neuer Kooperationsmodelle, bei denen die Grossen den Kleinen dort Türen öffnen, wo aus der Grösse Vorteile entstehen wie beim Einkauf oder der Erstellung von Netzzustandsberichten.
Sind Sie für oder gegen eine solche Konzentration der Bahnnetze?
Ich möchte in der föderalistisch geprägten Schweiz, die auf eine über 100-jährige Bahngeschichte zurückblicken kann, keine politische Diskussion anzetteln, die dann womöglich das gefährdet, was wirklich zu tun wäre, nämlich ein Ausbau des regulatorischen Rahmens und erhöhte Effizienz durch Kooperationen. Denn der wahrscheinlich gravierendste Nachteil einer Zusammenlegung ist, dass dabei nebst der Zentralisierung die Eigentumsverhältnisse neu geregelt werden müssten, was zu einem endlosen politischen Disput führen könnte, zumal die meisten Bahnen mehreren Aktionären mit unterschiedlichen Interessen gehören.
Zudem ist bis heute von niemandem klar aufgezeigt worden, welche finanziellen Vorteile eine sofortige radikale Zusammenlegung bringen würde. Vor einigen Jahren sprach die SBB noch von einem jährlichen Synergieeffekt von weit über 100 Mio. Franken, gegenüber unserer Kommission nannte sie aber nur noch einen kleinen zweistelligen Millionenbetrag.
Bio:
Paul Blumenthal (58) wuchs in Naters und Brig auf, wo sein Vater 46 Jahre lang am Bahnhof arbeitete, und trat nach dem Studium 1981 als Lic. rer. pol. in die SBB ein. 1993 stieg er aus dem Marketing des Personenverkehrs (damals noch ohne Produktion) zu dessen Leiter auf . Ab 1999 leitete er die Division Personenverkehr und wurde Mitglied der Konzernleitung. 2009 trat er aus gesundheitlichen Gründen zurück und wurde selbstständiger Berater. Heute hat er Verwaltungsratsmandate bei rund einem Dutzend Unternehmen der Bahnbranche wie ÖBB (Holding, Personenverkehr und Railcargo Austria), Zentralbahn, Thurbo, Elvetino, RhB, Berner Oberland Bahnen, TransN (Transport Public de Neuchâtel), VMCV (Vevey-Montreux), Baselstädtische Verkehrsbetriebe. Er wohnt mit seiner Frau in Schmitten/FR, hat zwei erwachsene Kinder und ein Enkelkind in Erwartung. Hobbys: Nordic-Walking, Mountainbike, Skifahren.