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«Ich will nicht vor Gericht!»

Kollegin M. ruft aufgeregt im Sekretariat an. Der Gewerkschaftssekretär braucht einige Zeit und gutes Zureden, bis sie sich soweit beruhigt hat, dass er versteht, worum es geht: Aus der Kaffeekasse im Pausenraum ihres Betriebes sei Geld verschwunden, erklärt M., und der Vorgesetzte habe ihr gesagt, er habe sie im Verdacht, die «Täterin» zu sein. Wenn sie den fehlenden Betrag, es gehe um fünfzig Franken, nicht ersetze, gebe es einen Verweis, und wenn sie dagegen Einwände erhebe, «sehen wir uns vor Gericht». Dabei habe sie nichts getan und schon gar kein Geld aus der Kasse genommen. Aber vor Gericht wolle sie auf keinen Fall, obschon sie jetzt, vor Weihnachten, das Geld wirklich anderweitig brauche.

Kollege Z. bittet seinen Sektionspräsidenten um ein vertrauliches Gespräch. Er habe im letzten Monat, so erläutert er, insgesamt 18 Überstunden notiert. Dabei seien zwei Stunden angefallen, weil er dem Vorgesetzten gefälligkeitshalber in der Betriebswerkstatt geholfen habe. Einmal habe er nach der ordentlichen Arbeitszeit beim Leeren eines Raumes Hand angelegt, der neu genutzt werden sollte. Und die restlichen Überstunden seien entstanden, weil immer zuwenig Personal für zuviel Arbeit da gewesen sei, auch wegen Ferien und einem Mutterschaftsurlaub. Doch der Vorgesetzte habe ihm jetzt gesagt, soviele Überstunden in einem Monat gingen auf keinen Fall, er dürfe höchstens 10 notieren. Ob er, der Sektionspräsident, nicht etwas tun könne, fragt Z. Den Vorgesetzten vor Gericht ziehen wolle er auf keinen Fall, er sei 59 und könnte sich eine Entlassung nicht leisten.

Kollege R. wendet sich brieflich an den Rechtsschutz. Er habe gekündigt und alles sei soweit gut geregelt, aber das Arbeitszeugnis – es liegt in Kopie dem Brief bei – bereite ihm Sorgen. Wenn er nach seiner geplanten Weiterbildung wieder eine Arbeit suche, hätte er es mit den Formulierungen im Zeugnis sicher schwer. Wahrscheinlich habe der Personaldienst sogenannte «Codes» verwendet, dabei dürfe man das doch gar nicht. Er habe reklamiert, aber der Personaldienst stelle sich auf den Standpunkt, alles habe seine Richtigkeit, sonst solle R. vors Arbeitsgericht, er, der Arbeitgeber, wisse genau, dass er dort Recht kriege. Und das Geld und die Kraft für eine Gerichtsverhandlung, so R., habe er nicht, er brauche seine Zeit jetzt für die Weiterbildung.

Wir verstehen die Kolleg/innen M., Z. und R. Aber wir sind anderer Meinung: Ein Gang vors Gericht, ob man nun klagt oder ob man «beklagt» wird, ist zwar unangenehm, aber manchmal doch die beste Lösung. Bei den sogenannten «zivilrechtlichen» Fällen – dazu gehören viele Rechtsgebiete, auch das Arbeitsrecht – gibt es ein zweistufiges Verfahren: zuerst gibt es den «Schlichtungsversuch», wo versucht wird, eine gütliche Einigung zu erreichen. Dabei müssen meistens beide Parteien etwas «Federn lassen». Dazu wird eine sogenannte «Per-Saldo-Erklärung» unterschrieben, die besagt, dass man einander gegenseitig nichts mehr schuldet. In arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen bis zu einem Streitwert von 30000 Franken – das sind die meisten – ist das Verfahren kostenlos. Wird keine Einigung gefunden, erhält die klagende Partei die «Klagebewilligung». Klagt sie, wird das Gericht feststellen, «was Sache ist» bzw. was sich beweisen lässt. Sollte man dabei nicht Recht bekommen, müssen ev. Anwaltskosten der Gegenpartei beglichen werden.

So oder so sollte man sich bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten ans Rechtsschutzteam der Gewerkschaft wenden. Diese Spezialist/innen haben Erfahrung und können abschätzen, ob die Forderung gerechtfertigt ist, ob ein Gang vor Gericht sinnvoll ist oder nicht. Falls es notwendig erscheint, kann die Gewerkschaft auch einen Anwalt/eine Anwältin damit beauftragen, das Mitglied vor Gericht zu vertreten.

Noch ein kleiner Hinweis aus der Praxis: Auch Arbeitgeber/innen gehen im Allgemeinen nicht gern vor Gericht. Darauf zählen, dass sie in jedem Fall vorgerichtlich zu einem Vergleich einlenken, kann man deswegen allerdings nicht.

Rechtsschutzteam SEV

Nachbemerkung: Mitarbeitende der SBB sind öffentlich-rechtlich angestellt, dort gilt ein anderes Verfahren.