Schweizerische Trassenvergabestelle: Mehr Personal, mehr Aufgaben
Seit einem Jahr ist die schweizerische Trassenvergabestelle (TVS) eine unabhängige öffentlich-rechtliche Anstalt des Bundes und keine privatrechtliche AG mehr. Da sie durch diesen Wechsel neue Aufgaben übernahm, konnte sie ihren Personalbestand zusätzlich aufstocken. Als Wächterin über Zeit und Raum im Bahnverkehr steht sie vor grossen Herausforderungen.
55 verschiedene Lokomotiven waren laut Recherchen von «Investigate Europe» nötig, um mit dem «Connecting Europe Express» anlässlich des EU-Jahres der Schiene durch 26 europäische Länder zu fahren. Das steht exemplarisch für das zerstückelte europäische Eisenbahnnetz. Kein Wunder bezeichneten böse Zungen den Zug auch als «Disconnecting Europe Express».
Seit Jahrzehnten plant die EU, das europäische Schienennetz zu harmonisieren. Doch richtig in Fahrt kamen diese Pläne nie. In vielen Ländern fehlt der politische Wille und die Bereitschaft, eigene Systeme aufzugeben. Immerhin konnten einzelne Projekte in einzelnen Ländern vorangetrieben werden. Ein Beispiel dafür ist die Entstehung der schweizerischen Trassenvergabestelle.
Von der Trasse Schweiz AG zur TVS
Nachdem der Bahnverkehr im Vergleich zum Strassenverkehr stetig gesunken war, beschloss die EU 1991, der Zugang zum Bahnnetz müsse liberalisiert werden, um die Bahn attraktiver zu machen. Sie beschloss, die Infrastruktur würde zwar immer noch von einzelnen Bahninfrastrukturbetrieben zur Verfügung gestellt, doch bei der Nutzung der Trassen solle der Markt spielen. Den freien Netzzugang sollten unabhängige Trassenvergabestellen garantieren.
Die Schweiz übernahm mit der Annahme der bilateralen Verträge die Beschlüsse der EU und begann sie 1999 mit der «Bahnreform 1» umzusetzen. Obwohl es politisch mehrere Anläufe brauchte und gut zwanzig Jahre bis zur Gründung der TVS dauerte, schufen die zwei grössten Schweizer Trassenanbieter SBB und BLS bereits 2001 eine erste gemeinsame Trassenvergabestelle. Als sich mehr Unternehmungen am Geschäft mit dem Gütertransport auf den Schweizer Schienen beteiligen wollten, wurde 2006 die Vorgängerin der TVS gegründet: Die Trasse Schweiz AG, an der sich zu je einem Viertel die SBB, die BLS, die SOB und der Verband öffentlicher Verkehr beteiligten. Am 1. Januar 2021 wurde diese AG durch die nicht gewinnorientierte öffentlich-rechtliche Anstalt des Bundes «Trassenvergabestelle» ersetzt, ein Resultat des vom Parlament verabschiedeten Gesetzespaketes zur Organisation der Bahninfrastruktur (Obi). «Damit setzten wir die ursprüngliche Forderung der EU um und haben nun einen gesetzlichen Auftrag, statt nur einen Auftrag der betroffenen Bahnen», sagt TVS-Geschäftsführer Thomas Isenmann, der zuvor auch die Trasse Schweiz AG geleitet hatte.
Die Hauptaufgabe der TVS ist, zu gewährleisten, dass es bei der Vergabe von Trassen keine Diskriminierung gibt. Das heisst, sie wacht über Zeit und Raum im Normalspurnetz. Das ist neben der Trassenvergabe auch die Fahrplanplanung. Wenn sich eine Eisenbahnunternehmung für die Nutzung eines gewissen Streckenabschnitts in einem gewissen Zeitrahmen interessiert, muss die TVS darüber urteilen, ob das möglich ist oder nicht. Damit keine Interessentin diskriminiert wird, muss die TVS ihr Urteil begründen sowie mögliche Alternativen aufzeigen können. Zudem muss sie sicherstellen, dass die Rechtsgrundlagen korrekt angewandt werden. Damit Änderungen im Jahresfahrplan bis zum Fahrplanwechsel im Dezember umgesetzt werden können, müssen die Eisenbahnverkehrsunternehmungen ihre Trassenwünsche bereits im April des jeweiligen Jahres bei der TVS deponieren. Bei den Entscheiden spielen nicht nur nationale Interessen eine Rolle, sondern auch internationale Bahnkorridore werden in Betracht gezogen.
Im Moment finde man fast immer eine Lösung, sagt TVS-Geschäftsführer Isenmann, obschon die Schweiz eines der meistausgelasteten Bahnnetze Europas habe und ständig an Kapazitätsgrenzen stosse. Damit die Trassenvergabe weiterhin reibungslos verlaufen könne, sei jedoch die Politik in ganz Europa gefordert: «Es müssen mehr Finanzen zur Verfügung gestellt werden, um die Bahninfrastruktur auszubauen und so die mit dem ‹Green Deal› angestrebte klimaschonende Verkehrsverlagerung zu ermöglichen.»
Gute Arbeitsbedingungen unabdingbar
Neben der Trassenvergabe kümmert sich die TVS auch um andere Aufgaben, wie zum Beispiel Kapazitätsanalysen für als überlastet erklärte Strecken, die Führung des Eisenbahn-Infrastrukturregisters, das Inkasso des Trassenbenutzungsentgelts sowie die Publikation der Investitionspläne der Infrastrukturbetreiberinnen. Zudem ist die TVS neu für 12 statt nur 3 Infrastrukturbetreiberinnen zuständig. Folglich wurde der Personalbestand 2021 aufgestockt und die Mitarbeitenden dem Bundespersonalgesetz unterstellt. Darin ist ein jährlicher Austausch mit den Gewerkschaften – auch mit dem SEV – institutionalisiert. Für Thomas Isenmann ist klar, die TVS muss eine attraktive Arbeitgeberin sein: «Wegen der Komplexität unserer Arbeit kommen fast nur Leute in Frage, die zuvor bei einer Eisenbahnunternehmung gearbeitet haben. Als wir noch den Bahngesellschaften gehörten, konnten sie die Dienstjahre zur Berechnung ihrer Treueprämien mitnehmen. Jetzt verlieren sie diese, wenn sie zur TVS wechseln. Das müssen wir durch gute Arbeitsbedingungen kompensieren.»
Der SEV befürwortete in der Vernehmlassung zur Obi-Vorlage die Schaffung der TVS, obwohl er der Auffassung war, dass das Diskriminierungspotenzial auch vorher eher theoretischer Natur war. Viel wichtiger war für den SEV, dass der Bundesrat und letztlich auch die Politik sich mit Obi klar für die Beibehaltung der integrierten Bahn ausgesprochen haben. Nicht nur der SEV war der Überzeugung, dass die Desintegration ein tiefgreifender Eingriff in das gut funktionierende, hochgradig vernetzte und stark ausgelastete Bahnsystem der Schweiz wäre, der keine spürbaren Verbesserungen mit sich brächte. So sind glücklicherweise auch heute noch die Schweizer Bahnunternehmen meist als sogenannte integrierte Bahnen organisiert. Die Infrastruktur ist rechnerisch und organisatorisch vom Verkehr getrennt, bleibt aber in der Gesamtverantwortung der Bahnunternehmen.
Michael Spahr