Die Netzplattform ermöglicht die Auslagerung von immer mehr Arbeiten und Aufgaben

Wenn ein Algorithmus uns regiert

Wie steht es um die Welt der Arbeit? Miserabel, erklärt Professor Lelio Demichelis. Er analysiert dietiefgreifenden Veränderungen im Arbeitsumfeld, das immer stärker zergliedert, uberisiert undindividualisiert wird. Eine Welt in einer umfassenden Umwälzung, die auch die Gewerkschaften vorHerausforderungen stellt.

Professor Demichelis, die technologische Revolution stellt die Arbeits- und Berufswelt auf den Kopf. Die Automatisierung vieler Aufgaben in der Produktion und die steigende Digitalisierung haben schwerwiegende Auswirkungen, mit weiter zunehmender Tendenz. Wie beurteilen Sie den Zustand der Arbeitswelt?

Miserabel – und dies nicht etwa, weil ich gegen die Technologie bin, im Gegenteil. Aber so ist es in jeder Etappe der industriellen Revolution. Jedes Mal entsteht und (vor allem) verschwindet Arbeit, aber was wichtiger ist–und darüber sollte man zuerst nachdenken –, jedes Mal gibt es eine tiefgreifende Umwälzung der Gesellschaft, was immer mehr zu einer technisierten Organisation führt. Das Silicon Valley will uns alle immer vernetzt sehen, da es sonst unsere Daten nicht beziehen kann, was für seinen Profit entscheidend ist. Dort hat sich in den letzten dreissig Jahren eine neoliberale Ideologie durchgesetzt, die darauf abgestützt ist, dass die Gesellschaft sich in einen Markt verwandelt und das Leben in einen Wettbewerb. Zudem sind die Ausbreitung und Durchdringung der Technologien n-mal grösser als früher. Heute führen «machine learning» und sich selbst programmierende Algorithmen zur Entfremdung der Menschen sowohl vom Besitz der Produktionsmittel (im Sinn von Marx) als auch vom selbständigen Entscheid bezüglich «was tun» und «wie tun» zu welchem «Zweck». Wir delegieren unser Leben – tun, konsumieren, leben, uns informieren, kommunizieren, lieben – an Maschinen und Algorithmen: hier ist der grosse Unterschied zur Technik der Vergangenheit.

Das Dreieck von Person, Technik und Beschäftigung ist nicht neu. Der englische Ökonom John Maynard Keynes sprach schon 1930 von «technologischer Arbeitslosigkeit». Was ist heute anders?

Keynes sprach damals von technologischer Arbeitslosigkeit als einer neuen «Krankheit» der fortgeschrittenen Gesellschaften. Er sah dies als Folge der Entwicklung immer neuer Geräte zur Einsparung von Arbeitskräften, womit in immer schnellerem Rhythmus neue Aufgaben für die freigewordenen Arbeitskräfte geschaffen werden können. Keynes nannte es eine vorübergehende «Krankheit», weil er dem Fortschritt vertraute. Aber heute verstärkt die Technologie nicht nur das Ungleichgewicht von verlorenen und neuen Stellen, sondern sie tut dies erst noch viel schneller, womit es schwierig ist, sich Auswirkungen vorzustellen, die die heutige Arbeitslosigkeit langfristig kompensieren. Denn schon morgen werden wir wohl einer neuen technologischen Arbeitslosigkeit gegenüberstehen. Diese ist nicht vorübergehend, sondern systematisch und strukturell. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die Schumpetersche «schöpferische Zerstörung» (die heute als «Disruption» bezeichnet wird) eben immer wieder Zerstörung braucht, unabhängig vom gesellschaftlichen Nutzen der Erfindungen. Zudem: Das System verlangt heute von uns, dass wir uns dem Wandel, der «Disruption» anpassen müssen. Aber wenn wir diesem technologischen Zwang nicht entkommen, werden wir immer mehr von einem Algorithmus regiert. Damit gehen wir von der Demokratie in eine Algokratie über – oder sind schon dort.

Das Auftauchen von Uber hat die Arbeitswelt grundlegend verändert und das Arbeitsmodell der Uberisierung geschaffen. Mit welchen Gefahren und Folgen?

Uber hat von der neuen Möglichkeit profitiert, die das Netz für die Arbeitsorganisation bietet. Das System, das ich techno-kapitalistisch nenne, folgt einer doppelten Bewegung, die immer gleich ist, auch wenn sie unterschiedlich erscheint. Zuerst geht es darum, die Arbeit (und den Konsum und das Leben) aufzuteilen, zu individualisieren, zu parzellieren, um danach die Einzelteile neu zusammenzusetzen, aufzubauen, einzufügen in etwas, dasgrösser ist als die rein rechnerische Summe der Einzelteile. Und dieses Etwas nennt sich Organisation, Vernetzung, «Internet der Dinge und Menschen». Im 19.Jahrhundert hiess dieser Neuaufbau von Menschen und Maschinen Fliessband und brauchte einen physischen Standort (Fabrik, Büro). Heute ermöglicht die Netzplattform hingegen eine Auslagerung einer steigenden Zahl von Arbeiten und Aufgaben, auch von Professionalität, verbunden mit der Bezahlung on demand; bezahlt wird also nur, wann und so lange etwas gebraucht wird. Dies ist eine Steigerung vom just in time der 70er Jahre.

Man will uns einreden, das Netz sei frei und demokratisch, es entstehe eine postkapitalistische Umverteilung, Facebook sei tatsächlich «sozial».

Ohnehin verändert sich die Arbeit und verlangt vorausschauende Flexibilität. Die Mär von den Chancen des Digitalen verschwindet angesichts des Arbeitsprekariats und der Scheinheiligkeit der sogenannten «digital labour» und dem von den Plattformen versprochenen Selbstunternehmertum. Wie sehen Sie Chancen und Risiken?

Der Uber-Fahrer hält sich für einen «Selbstunternehmer», denn er hat die Produktionsmittel (das Auto, das Smartphone), aber er übersieht, dass das eigentliche «Produktionsmittel» die Plattform ist. Die digital labour ist eher ausgenutzte als bezahlte Arbeit, nahe an Gratisarbeit. Wir sind im «Plattform-Kapitalismus» angekommen. Aber die Flexibilität hat ihre Wurzeln in den 70er Jahren, einem Jahrzehnt des Stillstands, der Inflation und der Arbeitslosigkeit. Um zu entkommen, brauchte das System eine neue Phase der «schöpferischen Zerstörung», woraus die Globalisierung sowie die Deregulierung der Finanzmärkte und der Arbeit folgten, danach das Netz und heute die Digitalisierung.

Laut einem neuen Bericht der Weltarbeitsorganisation macht bezahlte Arbeit nur die Hälfte der Beschäftigung in der Welt aus, und davon sind nur 45% feste Anstellungen. Dies schafft neue Herausforderungen, auch im demokratischen und sozialen Bereich. Wie müssen dauerhafter und voraussehbarer Lohn, soziale Sicherheit und der Schutz des Rechts auf Arbeit in der digitalen uberisierten Zeit neu geregelt werden?L

Ford mochte die Gewerkschaften nicht und Taylor ebenso wenig («ein Hindernis der unternehmerischen Freiheit»). Heute geht die Krise der Gewerkschaften von der Netztechnologie und vom neoliberalen Pseudoindividualismus aus. Diese individualisieren die Arbeit und ermöglichen damit dem Unternehmen, diese ohne das Hindernis der Gewerkschaft zu organisieren, mit Einzelarbeitsverträgen statt Gesamtarbeitsverträgen. Teile und herrsche dank der Technik. Von 1945 bis Ende der 70er Jahre musste sich der Kapitalismus mit der Demokratie vertragen. Aber in den 80er Jahren hat er die Weltherrschaft wieder übernommen, den Wettbewerb über die Solidarität gestellt (die der «schöpferischen Zerstörung» wenig diente), und er hat die Arbeit wieder zu einer billigen Handelsware gemacht. Im 19.Jahrhundert ist es teilweise gelungen, dass die Demokratie die Fabriktore überwunden hat. Heute gilt es, die «Tore» der Plattform-Fabriken zu bezwingen, bis hin zum Silicon Valley, und sie zu zwingen, die sozialen Kosten der Produkte ihrer Schöpfungen zu tragen; es wäre zu einfach, nur die Profite einzustreichen.

Die Gewerkschaften sind gefordert: sie haben über lange Zeit ein Kräfteverhältnis vor Ort aufgebaut, an den Arbeitsplätzen, in den Fabriken, im direkten Kontakt mit den Menschen. Was bleiben ihnen nun für Strategien und Vorgehensweisen, wenn die Arbeitsplätze virtuell werden?

Zuerst muss man sich bewusst werden, dass die Technik heute eine Macht ist, die nicht vom demos geführt wird, vom souveränen Volk. Diese Macht geht auch übers Unternehmen hinaus. Man will uns einreden, das Netz sei frei und demokratisch, es entstehe eine postkapitalistische Umverteilung, Facebook sei tatsächlich «sozial». Und wenn der Neoliberalismus die Gesellschaft mit dem Versprechen einer totalen Freiheit der Individuen zerschlagen wollte, muss man mit aller Klarheit sagen, dass dieses Versprechen falsch war, dass das Ich nicht existiert und frei ist ohne ein freies «Wir». Die Gewerkschaft muss also daran erinnern, dass es nicht genügt, Algorithmen zu handeln oder mit ihnen zu handeln (sie kennen die Idee der Demokratie nicht) – das wäre nur mit dem Strom schwimmen–, ohne das zu kontrollieren, was sie bestimmt.

Die Digitalisierung wird von jenen vorangetrieben, die sie verstehen und die Gewinne daraus erkennen. Es droht eine gespaltene Gesellschaft: jene die es schaffen, und jene, die den Anschluss verlieren. Wo ist hier im Vergleich zu andern industriellen Revolutionen der Unterschied?

Sie ist verschieden in den Begriffen, die ich anfänglich genannt habe, aber gleich im Sinn einer doppelten Bewegung. Denn die Technik ist nicht mehr ein Mittel zum Zweck und neutral, sondern sie ist gefährlich selbsterzeugend geworden, sie ist also in der Lage– und dies dank den Algorithmen–, gleichzeitig Auftraggeber und das Produkt des eigenen Auftrags zu sein. Die Technik ist ausser Kontrolle geraten. Wir müssen sie uns zurückholen.

Françoise Gehring / pmo

BIO

Lelio Demichelis, Jahrgang 1956, ist studierter Jurist. Er ist Dozent für Wirtschaftssoziologie an der Wirtschaftsfakultät der Universität Insubrien und unterrichtet auch an der SUPSI Lugano. Er arbeitet mit führenden Medien zusammen und ist Verfasser zahlreicher Forschungen und Publikationen, so «Soziologie der Technik und des Kapitalismus» (2017) und «Die Religion des Techno-Kapitalismus» (2015). Die Werke sind nur in Italienisch verfügbar.