Rede von Giorgio Tuti an der 1.-Mai-Feier in Zürich
«Setzen wir uns ein für mehr Gerechtigkeit und gegen Ausgrenzung»
Die Schweiz ist so reich wie noch nie. Aber die Einkommen und Vermögen sind extrem ungleich verteilt, und die sozialen Gegensätze nehmen zu. Die Schere zwischen oben und unten öffnet sich weiter. Die Einkommensentwicklung der Topverdiener und der Normalverdiener klafft weit auseinander. Seit 1996 sind die Löhne des bestbezahlten Prozentes real um rund 40 Prozent gestiegen, während die tiefen und mittleren Löhne nur um 8 bzw. 12 Prozent zulegten. Berufsleute mit einer Lehre mussten sich mit weniger als 5 Prozent begnügen.
Noch grösser als bei den Löhnen ist der Unterschied der Einkommensentwicklung im Rentenalter, denn die 2. und 3. Säule verlängern die Ungleichgewichte des Erwerbslebens ins Alter und verschärfen sie. Es kommt dazu, dass die AHV-Renten, gemessen an der wirtschaftlichen Entwicklung, immer mehr an Wert verlieren und nicht mit der Lohnentwicklung Schritt halten. Die AHV-Renten sind seit 1975 real nicht mehr erhöht worden, sondern lediglich in Anwendung des Mischindexes einigermassen der Teuerung angepasst worden.
Statt korrigierend einzugreifen, hat die Politik die zunehmend ungleiche Lohnentwicklung noch verstärkt: Die obersten Einkommensschichten wurden vor allem bei den direkten Steuern entlastet, die unteren und mittleren Einkommen dagegen über Abgaben und insbesondere die Krankenkassenprämien deutlich mehr belastet.
Unter dem Strich sank das real verfügbare Einkommen der Wenigverdiener. Die mittleren Einkommensklassen stagnierten, während das bestverdienende Prozent mehr im Portemonnaie hatte. Und das nicht zu knapp.
Es erstaunt daher nicht, dass bei dieser Entwicklung Reiche immer reicher und Normalverdienende immer ärmer werden. Nur gerade 2,6% der Bevölkerung die Hälfte des Gesamtvermögens in der Schweiz besitzen. Auch hier müssen wir handeln und einen Riegel schieben.
Und das Gute daran: Wir haben die Gelegenheit dazu. Im Juni stimmen wir über die Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer ab.Diese Steuer ist gerecht und bringt allen etwas. Klar, dass die bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände dagegen schiessen, und das mit Halbwahrheiten und Lügen. Bei ihnen tönt es, als ob alle eine Erbschaftssteuer entrichten müssten. Also auch die Büezer, mit bescheidenen Einkommen, zum Teil mit kleinen Einfamilienhäusern, also ganz normale Leute. Tatsächlich müsste jedoch erst ab einem Vermögen von 2 Millionen Franken eine Erbschaftssteuer bezahlt werden, 98% der Leute wären also davon gar nicht betroffen. Ich glaube wirklich nicht, dass viele von euch hier auf diesem Platz bezahlen müssten. Sagen wir Ja zur Erbschaftssteuer! Wenn Leute zu grossen Erbschaften kommen, ohne auch nur das Geringste dafür getan zu haben, ist es richtig, dass sie davon einen Beitrag an die Allgemeinheit entrichten.
Bei der Schweizer Vermögensverteilung käme ganz schön etwas zusammen. Man hat ausgerechnet, dass rund 3 Milliarden Franken pro Jahr flössen, 2 Mia für die AHV und 1 Mia für die Kantone. Lassen wir uns also durch die Propagandamaschinerie der Bürgerlichen nicht beeinflussen und stimmen überzeugt Ja zur Einführung einer gerechten Erbschaftssteuer und stärken so unsere AHV.
Damit bin ich bei der AHV:
In den letzten Jahren haben wir mehrfach gegen Verschlechterungen bei der AHV kämpfen müssen. Mit Referenden haben wir Rentenaltererhöhungen und Leistungsverschlechterungen bekämpft. Erfolgreich!
Nun steht wieder ein solches Abbau-Projekt vor der Tür – die „Altersvorsorge 2020“. Dieses Projekt will die Leistungen der AHV gar noch verschlechtern: mit einem höheren Rentenalter für die Frauen, und indem der Teuerungsausgleich in Frage gestellt wird. Da machen wir nicht mit! Vielmehr ist es an der Zeit, die Renten zu verbessern. Das ist bitter nötig. Aus diesem Grund haben wir AHVplus lanciert, eine Initiative, um die Renten mit einem Zuschlag von 10% zu erhöhen. Das entspricht einer monatlichen Rentenverbesserung von rund 200 Franken für Alleinstehende und bis 350 Franken für Ehepaare.
In der Bundesverfassung steht, dass die Renteneinkommen aus AHV und Pensionskasse die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung ermöglichen sollen. Davon können leider viele Rentnerinnen und Rentner nur träumen. Das wissen wir alle. Das muss korrigiert werden.
AHVplus ist die Lösung, die wirklich etwas bringt für die Menschen, die schon jetzt im Alter nur noch sehr bescheiden leben können, und für jene, die heute ihrer Pensionierung mit grosser Sorge entgegenblicken. Wir sind zu Recht stolz auf unsere AHV, und das wollen wir auch weiterhin sein können, mit den nötigen Anpassungen durch AHVplus und mit dem Kampf gegen das Verschlechterungspaket „Rentenreform 2020“.
Seit dem vergangenen 15. Januar hat sich in diesem Land einiges grundsätzlich verändert. Die Nationalbank geht hin und beschliesst, den Wechselkurs des Schweizer Frankens gegenüber dem Euro nicht mehr länger zu stützen. Was ist seither passiert? Wir sind konfrontiert mit der Einführung von Eurolöhnen, Arbeitszeitverlängerungen, Lohnkürzungen und Entlassungen. Tatsächlich gibt es Branchen und Betriebe, die in Schwierigkeiten sind, das bestreite ich nicht. Dann gibt es aber auch jene, die dies zum Anlass nehmen, um die Gewinne zu steigern und die Aktionäre zu bedienen – auf dem Buckel der Arbeitnehmenden. Die Schweiz ist ein Land mit einer eigenen Währung; es ist unglaublich, dass die Nationalbank dies nicht zu Gunsten des Landes, sondern zur Schwächung des Landes einsetzt. Die Nationalbank hat dem Land geschadet und grosse Unsicherheit verbreitet. Das muss sich ändern: Die Nationalbank muss ihre Verantwortung wieder wahrnehmen und den Frankenkurs beeinflussen für einen schwächeren Schweizer Franken.
Ein Jahr früher, am 9. Februar 2014, hat sich die Schweiz für die Isolation entschieden. Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative hat unser Land ebenfalls in grosse Schwierigkeiten gebracht. Bei der Umsetzung dieser Initiative riskieren wir, dass die Beziehungen zum grössten Handelspartner, der EU, nachhaltig gestört werden. Wir sind aber darauf angewiesen, diese Beziehungen aufrecht zu erhalten, was nicht einfach wird. Zu beachten ist aber, dass wir nicht nur auf gute Beziehungen mit der EU angewiesen sind, sondern auch auf griffige flankierende Massnahmen, die die Arbeitsplätze und die Löhne schützen und dem Lohndumping einen Riegel schieben.
Genau dagegen wehren sich nun wiederum die selben Kreise, die gegen die Einführung der Erbschaftssteuer sind und gegen die Verbesserung der AHV. Das sind unsere politischen Gegner. Im Oktober, bei den National- und Ständeratswahlen, haben wir die Möglichkeit, ein anderes Parlament zu wählen, ein Parlament, das die Interessen der Arbeitnehmenden und Rentner vertritt. Liebe Kolleginnen und Kollegen: Weshalb nur gibt es normalverdienende Arbeitnehmende, die lieber Milliardäre von der Goldküste wählen und dann auch noch meinen, sie würden von diesen vertreten?
Wir haben es bei den Wahlen selbst in der Hand, für bessere Verhältnisse zu sorgen. Aber wir haben es noch viel direkter in der Hand. Eine Studie des Internationalen Währungsfonds – ausgerechnet! – zeigt auf, dass die Ungleichheit grösser wird, wenn die Gewerkschaften an Kraft verlieren. Umgekehrt: Je stärker die Gewerkschaften, umso besser gelingt es, Lohngerechtigkeit durchzusetzen. Nur gemeinsam sind wir stark. Wir stehen einem Block aus bürgerlichen Parteien und Wirtschaftsverbänden gegenüber, deren Ziele klar sind: den Staat schwächen, um Gewinne maximieren zu können und Sozialleistungen abzubauen. Sie wollen Steuern für Unternehmen und Reiche senken, sie wollen die Dienste für die Allgemeinheit reduzieren, sie wollen generell den Service public abbauen und den Markt spielen lassen – als wäre die Grundversorgung ein Spiel.
Diese Strömungen haben längst auch das Bundeshaus erreicht: Meine Eisenbahnerinnen und Eisenbahner kämpfen zurzeit dagegen, dass Lokomotivführer einer privaten Schweizer Güterbahn, der Crossrail, zu Löhnen von 3600 Franken durchs Land fahren. Das Bundesamt für Verkehr will diesem Dumping nicht etwa einen Riegel schieben, ganz im Gegenteil, es will sogar neue Vorschriften erfinden, um diesen Missbrauch zu legalisieren. Da hilft nur eines: gewerkschaftlicher Widerstand, der Schritt für Schritt härter wird, bis er wirkt.
Der Weg ist vorgezeichnet: Unser Einsatz für Renten, für Arbeitsplätze, für Gesamtarbeitsverträge, für eine gerechtere Verteilung der Einkommen und Vermögen, für eine solidarische Schweiz, für mehr Gerechtigkeit und gegen Ausgrenzung geht weiter: Das ist und bleibt unsere Aufgabe und unser Ziel. Deshalb stehen wir Jahr für Jahr am 1. Mai hier und zeigen gemeinsam Stärke – seit 125 Jahren. 1890 fanden nämlich erstmals Kundgebungen der Arbeiterinnen und Arbeiter am 1. Mai statt.
Diese Kundgebungen sind Jahr für Jahr ein Zeichen der Solidarität, über Berufe hinweg, über Branchen hinweg; auch über Grenzen hinweg. Deshalb widme ich den Schluss meiner Rede der internationalen Solidarität. Was wir zurzeit im Mittelmeerraum erleben, ist eine Tragödie und eine Schande. Zu Hunderten, ja zu Tausenden ertrinken Menschen auf der Suche nach einer lebenswerten Welt. Europa, und die Schweiz ist ein Teil von Europa, die Staatengemeinschaft ist gefordert, hier menschenwürdige Lösungen zu finden, und zwar schnell. Es ist unerträglich, dass Politikerinnen und Politiker sagen können: Lasst sie ertrinken, ja gar: sprengt die Boote in die Luft. Hier gibt es nur eine Aussage, und die heisst: Rettet sie – alle, immer!
Danke für eure Aufmerksamkeit! Es lebe die internationale Solidarität! Es lebe der 1. Mai!
Bilder von der Maifeier in Zürich
Fotos: Arne Hegland