SEV-Migrationstagung vom 8. November zum Thema «Meine Rechte in der Gesellschaft»
Die Gesellschaft mitgestalten!
An der Migrationstagung 2014 in Olten standen für einmal nicht das Arbeitsrecht oder Sozialversicherungen im Zentrum, sondern die politischen Rechte der Migrant/innen und weitere Möglichkeiten für sie, ihr gesellschaftliches Umfeld aktiv mitzugestalten – und warum dies wichtig ist und sich lohnt.
Wenn ihre Eltern arbeiteten, musste sie allein in der Wohnung bleiben und legte sich, wenn die Sonne schien, auf dem Balkon auf den Boden, damit man sie nicht sah, erinnert sich die Tochter ehemaliger «Fremdarbeiter» im Kurzfilm «Verboten und versteckt – Saisonnierkinder erzählen» des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. «Ich kann Teppiche nicht mehr sehen», sagt der ehemalige Saisonniersohn in seinem teppichlosen Appartement. Denn er musste damals ganze Tage allein auf einem Teppich spielen und still sein. Der SGB erinnert mit dem Film an die vergessenen oder aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängten Folgen des Saisonnierstatuts, das bis am 1. Juni 2002, als das Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU in Kraft trat, die Vergabe von Kurzaufenthaltsbewilligungen an EU-Bürger/innen regelte. Es verbot den Familiennachzug zuerst ganz, später noch in den ersten vier Jahren des Aufenthalts in der Schweiz.
Drohender Rückfall
Der Film, der zum Auftakt der Tagung gezeigt wurde, weckte bei den rund 50 Teilnehmenden eigene dunkle Erinnerungen und Ängste. Denn heute, nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative, droht ein Rückfall in solch unmenschliche Regelungen. Vor allem, wenn am 30. November auch noch die Ecopop-Initiative angenommen würde, warnte SEV-Präsident Giorgio Tuti (siehe Box). «Stimmt Nein, wenn ihr abstimmen könnt, und bringt viele Leute in euerm Umfeld dazu, Nein zu stimmen.»
Politische Rechte in der Westschweiz fortschrittlicher
Das Beispiel zeigt, dass die Ausländer/innen, also Migrant/innen ohne Schweizer Pass, über Vorlagen, die sie selbst sehr direkt betreffen, auf Bundesebene nicht abstimmen können. Hingegen können sie auf allen drei politischen Ebenen – Bund, Kanton und Gemeinde – Petitionen unterschreiben, wie Tagungsmoderator Arne Hegland einleitend zum Themenblock «Politische Partizipation» erklärte. Vor allem aber haben Ausländer/innen, die seit ein paar Jahren niedergelassen sind, in allen Gemeinden der Kantone FR, JU, GE, NE und VD das Stimm- und Wahlrecht, wobei nicht überall auch das passive Wahlrecht, also das Recht, in eine Behörde gewählt zu werden. JU und NE gewähren ihnen die politischen Rechte auch auf kantonaler Ebene. In der Deutschschweiz dagegen haben sie das Stimm- und Wahlrecht bisher nur in gewissen Gemeinden von drei Kantonen: AR, BS und GR erlauben ihren Gemeinden fakultativ, die Ausländer/innen am politischen Leben teilhaben zu lassen.
«Auch die Ausländer/innen sind ein wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft und sollen diese aktiv mitgestalten», sagte Arne Hegland. «Dazu haben sie neben der politischen Partizipation weitere Möglichkeiten, auf die wir mit dieser Tagung hinweisen wollen. Doch sollten ihnen unbedingt alle Gemeinden und Kantone die politische Partizipation ermöglichen.»
Integrieren statt ausschliessen
Die aus Italien eingewanderte und eingebürgerte Giovanna Garghentini, die im Kanton Freiburg dem Grossen Rat und der Kommission für Integration der Migrant/innen angehört, erklärte, warum viele Ausländer/innen auch nach vielen Jahren in der Schweiz den Schweizerpass nicht beantragen: Viele empfinden das Einbürgerungsverfahren, das in den letzten Jahren vielerorts erschwert wurde, als zu inquisitorisch, zu zeitraubend und zu kostspielig. Viele finden, dass sie das Bürgerrecht nach einer bestimmten Anzahl Jahre in der Schweiz automatisch erhalten sollten wie in andern Ländern. Zudem kennen gewisse Länder noch immer nicht die Möglichkeit der Doppelbürgerschaft, Italien oder Spanien inzwischen aber schon.
«Kantone, die den Ausländer/innen politische Rechte gewähren, setzen auf Einbezug und Integration, um die soziale Vielfalt zu bewältigen, und tendieren zu einer neuen Auffassung der Bürgerschaft», zitierte Garghentini aus einer Studie, die Rosita Fibbi 2012 am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien der Universität Neuenburg über die Entwicklung der politischen Rechte der Ausländer/innen verfasst hat. Darin verweist Fibbi auf den Bundesverfassungsartikel 37 «Bürgerrechte», Absatz 1: «Schweizerbürgerin oder Schweizerbürger ist, wer das Bürgerrecht einer Gemeinde und das Bürgerrecht des Kantons besitzt.»
Tiefe Stimmbeteiligung
Die noch relativ junge Erfahrung mit den politischen Rechten für Ausländer/innen zeigt, dass deren Beteiligung bei Urnengängen bisher eher tief war: So betrug sie zum Beispiel bei den Genfer Gemeindewahlen von 2007 und 2011 nur 26 %, gegenüber 40 % bei den Schweizer/innen. Bei den Freiburger Gemeindewahlen von 2006 und 2011 wurde die ausländische Beteiligung nicht genau erhoben, lag aber kaum höher, wobei sie 2011 immerhin schon höher war als 2006.
Gründe für die tiefe Beteiligung sieht Garghentini darin, dass Ausländer/innen erst mal lernen müssen, wie man wählt und abstimmt, und dass dies für sie erst zur Gewohnheit werden müsse. Auch Sprachbarrieren spielten eine Rolle.
«Jede Stimme zählt»
Den Absentismus erklärt sich Giovanni Giarrana, Mitglied der Unia-Migrationskommission, so: «Viele denken: Warum Zeit investieren? Die Schweizer/innen entscheiden ja doch, wie sie wollen! Das ist aber ein Fehlschluss, denn so kommt es noch schlimmer heraus.»
Auch Garghentini rief dazu auf, womöglich an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen, da «jede Stimme zählt».1 Ausländer/innen stimmten jedoch im Schnitt kaum linker oder sonst anders als Schweizer/innen.
Nicht zu unterschätzen sei aber die indirekte Wirkung des Stimm- und Wahlrechts: «Dank diesem interessieren sich Politiker/innen und Parteien stärker für die Ausländer/innen und deren Anliegen.»
Wichtige Freiwilligenarbeit
In Ihrem Referat zeigte Patrycja Sacharuk von der GGG Ausländerberatung des Kantons Basel-Stadt auf, dass Ausländer/innen ihr Umfeld auch mitgestalten können, indem sie in Vereinen und Verbänden (oder Gewerkschaften wie dem SEV) mitmachen. «Diese können zudem indirekt die Gesetze beeinflussen, weil sie regelmässig zu Vernehmlassungen eingeladen werden.»
Freiwilligenarbeit bringe einem persönlich sehr viel – egal, ob man sie formell in einem Verein leiste oder informell in der Nachbarschaft, etwa für einen Mittagstisch, so Sacharuk weiter. «Man lernt Leute kennen und schafft sich ein Netzwerk. In der Schweiz wird Freiwilligenarbeit sehr geschätzt, und man kann sie sich für den Lebenslauf bestätigen lassen.»
Zum Beispiel der Kosovo-Albaner Osman Osmani hat seinen grossen freiwilligen Einsatz für die Migrant/innen aus Kosovo, wofür er heute bei Politiker/innen und Medien wohlbekannt ist, nie bereut. Er kam 1983 als Flüchtling in die Schweiz, arbeitete u. a. in der Gastronomie, einer Fabrik und als Zugbegleiter. Sehr aktiv betreute er Migrant/innen in Vereinen, nach einer psychosozialen Ausbildung auch beruflich. 1999 liess er sich einbürgern und wurde 2005 ins Schaffhauser Kantonsparlament gewählt.
Workshop und Kongressantrag
In drei Arbeitsgruppen diskutierten die Teilnehmenden über ihre persönlichen Erfahrungen als Migrant/innen. Den Berichten der Gruppen war zu entnehmen, dass es durchaus Diskriminierungen gibt, etwa beim schulischen und beruflichen Fortkommen. Das Lernen der Landessprache ist sehr wichtig für die Karriere und für die Integration, die nicht mit der Aufgabe der Identität verwechselt werden darf. «Je mehr Migrant/innen ihre eigene Kultur respektiert fühlen, desto mehr öffnen sie sich der Kultur des Gastlandes», zitierte Giovanna Garghentini den aus dem Libanon stammenden französischen Autor Amin Maalouf.
Zum Schluss beauftragte die Versammlung die Migrationskommission, dem Kongress zu beantragen, dass der SEV – eventuell gemeinsam mit andern Gewerkschaften – Dienstleistungsangebote (wie Sprachkurse) für Migrant/innen prüfen soll, die deren Mitbestimmung fördern.
Markus Fischer