Viele Verkehrsangestellte sind Migranten/innen und für das gute Funktionieren des Schweizer öV unverzichtbar
«Ohne uns kein öffentlicher Verkehr!»
Der SEV hat am Samstag, 19. November, in Olten an seiner Migrationstagung 2011 eine Kampagne lanciert, die der Fremdenfeindlichkeit und der dauernden politischen Polemik gegen die Ausländer/innen in der Schweiz entgegentritt.
Über 50 Verkehrsangestellte mit Migrationshintergrund aus der ganzen Schweiz fanden sich am vorletzten Samstag im Hotel Olten in Olten ein, um an der SEV-Migrationstagung 2011 teilzunehmen – so viele wie noch nie. Im Zentrum der Tagung stand die Lancierung der SEV-Kampagne gegen Fremdenfeindlichkeit. Präsentiert wurde sie von Gewerkschaftssekretär Arne Hegland, zuständig für die Migranten/innen im SEV. Er zeigte am Beispiel des Schlagworts «Einwanderung in die Sozialwerke » auf, wie mit Unwahrheiten die Fremdenfeindlichkeit geschürt wird, um daraus politisches Kapital zu schlagen. In Wirklichkeit sind nämlich nicht nur Baufirmen, Spitäler, Altersheime, Dienstleistungs- und Hightech- Unternehmen, Hochschulen usw. auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen, sondern auch unsere Sozialversicherungen. Denn der Anteil der Ausländer/innen an der Wohnbevölkerung beträgt knapp 22 Prozent, doch sie bezahlen bei AHV und IV 26,7 Prozent der Beiträge ein und beziehen nur 17,9 Prozent der Leistungen (Zahlen von 2009). Auch wenn man die IV separat betrachtet, bezahlen die Migranten/innen mehr ein, als sie beziehen, obwohl sie überdurchschnittlich häufig schwere, gesundheitsschädigende Arbeit verrichten. «Die Sozialversicherungen ständen ohne Migrantinnen und Migranten schlechter da», hielt Arne Hegland fest.
SEV-Präsident Giorgio Tuti rief in Erinnerung, dass die Bahntunnel durch Gotthard, Simplon und Lötschberg vor allem von Migranten/innen gebaut wurden. Und er stellte klar: «Der öffentliche Verkehr würde ohne Migranten/innen nicht funktionieren.» Bei der SBB liegt ihr Anteil am gesamten Personal bei rund 12 Prozent (und in Bereichen wie Gleisbau, Reinigung, Rollmaterialunterhalt oder Bahnrestauration weit darüber), bei den Lausanner Verkehrsbetrieben TL bei 35 Prozent und bei den TPG in Genf gar bei 45 Prozent.
Ziele und Mittel der Kampagne
Ziele der SEV-Kampagne «Ohne uns kein öffentlicher Verkehr» sind:
- Sensibilisierung nach aussen (Öffentlichkeit);
- Sensibilisierung nach innen: SEV, SGB;
- Förderung des Selbstbewusstseins der Migranten/innen des SEV;
- Stärkung der Migrationsposition innerhalb des SEV.
- Transparente «Ohne uns kein öffentlicher Verkehr» zum Aufhängen bei Versammlungen oder für Kundgebungen;
- Fahnen «Ohne uns – gegen Fremdenfeindlichkeit»;
- Karten «Ohne uns kein öffentlicher Verkehr» mit fünf Sujets, die fünf Bereiche zeigen, in denen im öV besonders viele Migranten/innen arbeiten: Gleisbau, Reinigung, Werkstätten, Bahnrestauration, Busfahrer/innen;
- Texte in der SEV-Zeitung.
«Ohne Migranten/innen steht der öffentliche Verkehr still …»
… heisst es denn auch auf den frischgedruckten Karten, die die Tagungsteilnehmenden am Abend nach Hause nahmen, um sie in den kommenden Wochen unter die Leute zu bringen. Die Karten werden auch durch die SEVSektionen verteilt – betriebsintern und am 13. Dezember schweizweit an Benutzer/innen des öffentlichen Verkehrs.
Nebst der Lancierung der Kampagne gegen Fremdenfeindlichkeit hörten die Tagungsteilnehmenden auch ein Referat von Marc Spescha und diskutierten in Arbeitsgruppen sowie im Plenum über ihre persönlichen Erlebnisse als Migranten/innen in der Schweiz.
Schmerzliche Erfahrungen
Giorgio Tuti zum Beispiel musste als achtjähriger Sohn einer Arbeiterfamilie in Gerlafingen an einem Sonntag im Jahr 1972 darum bangen, bei Annahme der Schwarzenbach- Initiative mit den Seinen die Schweiz verlassen zu müssen. «Ich war dann unheimlich froh, weiterhin mit meinen Freunden hier in die Schule gehen und spielen zu können», erzählte der SEV-Präsident. «Diese Geschichte prägt mich bis heute.»
Ältere Teilnehmer berichteten von herabwürdigenden medizinischen Untersuchungen bei der Ankunft im Grenzbahnhof: Saisonniers, die nicht für vollkommen gesund befunden wurden, mussten sogleich wieder ins Heimatland zurückkehren. Auch von Ausschaffungen illegal nachgezogener Angehöriger und Ausgrenzungen in der Schule war die Rede «Kinder armer Familien und Waisen waren meine besten Freunde», berichtete ein heute 62-jähriger Lokführer, der vor 57 Jahren mit seinen Eltern aus Süditalien in die Romandie kam. «Die Lehrerin überliess uns in den hintersten Schulbänken unserem Schicksal, denn wozu sollte ein künftiger Hilfsarbeiter lesen und schreiben können?» Doch eine Nachbarin half dem Italienerjungen beim Französischlernen.
Hoffnung gemischt mit Sorge
Inzwischen sei die Behandlung der Migranten/innen humaner geworden, so der Kollege weiter. «Die Schweiz hat sich enorm weiterentwickelt, die jungen Schweizer machen mir Hoffnung! Viele sind weit gereist und haben Freunde unter den Migranten/innen, nur wenige sind rassistisch. Am Besuchstag der Rekrutenschule meines Sohnes hat mich die multikulturelle Zusammensetzung sehr bewegt. Ich sagte mir: Wir sind besser als die Amerikaner!»
Weniger willkommen fühlte sich der Kollege dagegen, als ihm vor 6 Jahren das vereinfachte Einbürgerungsverfahren verweigert wurde, obwohl er seit über 50 Jahren in der Schweiz lebte und seine Frau bereits eingebürgert war. Er liess dann halt das normale Verfahren über sich ergehen.
Zu denken gaben dem Kollegen auch die administrativen Schwierigkeiten, die er überwinden musste, um seine betagte Mutter aus Italien zurückzuholen. Dorthin war sie nach der Pensionierung mit seinem Vater heimgekehrt. Als dieser starb, war sie ziemlich allein. Doch die Schweizer Behörden wollten nicht riskieren, dass sie als Pflegefall der Gemeinde zur Last fallen könnte. Und dies, obwohl sie viele Jahre in der Schweiz gearbeitet hatte und eine Rente bezog. Dazu ergänzte Marc Spescha, dass heute das Personenfreizügigkeitsabkommen den EU-Bürgern/innen in einem solchen Fall die Rückkehr garantiert.
Später Eingewanderte (z.B. aus Portugal) und jüngere Secondos berichteten zwar, sie hätten nicht mehr die gleich grossen Integrationsprobleme gehabt wie die Italiener in den 50er- oder 60er-Jahren und insofern von deren Kampf gegen die schreiendsten Ungerechtigkeiten profitiert. Doch auch sie sahen und sehen sich immer wieder mal mit mehr oder weniger subtiler Fremdenfeindlichkeit konfrontiert.
«Ich sass in der Schule ebenfalls hinten und habe mich nach vorn gearbeitet», erzählte ein jüngerer SBB-Kollege. Viele Schweizer sähen es aber nicht gern, wenn ein Ausländer eine gute Stelle habe, und liessen es ihn dann spüren. «Als Ausländer musst du immer ein bisschen mehr leisten als ein Schweizer, und immer gesund sein. Manchmal weiss ich nicht, ob ich das immer schaffen werde …»
Auch werde man als Migrant immer wieder mal pauschal mit kriminellen Asylbewerbern in denselben Topf geworfen, selbst wenn man in der Schweiz aufgewachsen sei oder seit vielen Jahren hier gelebt habe, so der Kollege weiter.
Besondere Besorgnis äusserten die Tagungsteilnehmenden über die politischen Hetzkampagnen der letzten Jahre und über das Ja zur unverhältnismässigen, unmenschlichen Ausschaffungsinitiative vor einem Jahr. Gegen diese unerfreulichen Tendenzen richtet sich die Kampagne des SEV.
Fi