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Auf den Spuren von...

Cung, der Kämpfer

Buschauffeur Hong-Nghia Cung ist Präsident des Vorstands von SEV-tl. Der gebürtige Vietnamese ist ein Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit und setzt seine ganze Energie für die Verteidigung der Arbeitsbedingungen seiner Kolleginnen und Kollegen ein. Mit Erfolg: Die Basis ist kampfbereit wie noch nie und die Beitritte zum SEV nehmen zu.

Cung empfängt mich vor dem Lokal der Lausanner Verkehrsbetriebe bei Saint-François. Ein kräftiger Händedruck, ein verbindendes Lachen. Unterwegs nimmt er die Stimmung der Kolleginnen und Kollegen auf. Dann erzählt er seine romanreife Lebensgeschichte.

Boat People

Er ist ein Kriegskind, geboren 1960 in Saigon. Cung hat einen hohen Preis für seine Überzeugung von Gerechtigkeit und Freiheit bezahlt. Er ist der zweite Sohn eines Majors, zusammen mit seinen fünf Brüdern wird er auf dem Schulweg von Soldaten begleitet. Als er acht Jahre ist, entkommt seine Familie nur knapp den Bomben der Tet-Offensive in Südvietnam. «Die Götter haben uns gerettet», sagt Cung. Vom Fall Saigons 1975 trägt er noch immer eine Narbe. «Sie haben mein Land gestohlen!» Hier ergibt sich natürlich eine Verbindung zwischen dem vietnamesischen Volk und dem Personal der tl: «Wenn man nicht bereit ist zu kämpfen, ist man verloren! Gleich wie in Vietnam. Meine Kolleginnen und Kollegen müssen sich bewegen. Wenn sie nichts machen, können wir auch nichts machen. Ich habe das umgesetzt. Ich spreche mit allen.»

Mit 16 Jahren wendet sich Cung gegen das kommunistische Regime, um Kriegsgefangene wie seinen Vater zu befreien. Er wird in der Schule gefangen genommen und kommt für fünf Wochen ins Gefängnis. Seine Mutter setzt sich für seine Freilassung ein und danach für seine Flucht. Als er 20 ist, muss er, kaum verheiratet, seine Frau, seine Mutter und zwei Brüder verlassen. Als Bootsflüchtling (Boat People) wird er nach 10 Tagen auf dem Meer gerettet und landet in einem Flüchtlingslager in Malaysia. 1980 kommt er in die Schweiz.

Programmierung, Handel und Fahren

In einem Flüchtlingszentrum in Freiburg lernt er innert drei Monaten Französisch. Danach arbeitet er drei Jahre in einer Fabrik. 1982 kommt der Rest der Familie dank dem Familiennachzug in die Schweiz. Schritt für Schritt integriert sich Cung und erhält 1995 den Schweizer Pass. Er macht eine Ausbildung als Informatiker und arbeitet sechs Jahre als Programmierer. Danach gründet er eine Import-Export-Firma in Verbindung mit Vietnam. 10 Jahre lang ist er zwischen Hong Kong und Macao unterwegs und knüpft politische Beziehungen. Die Rezession und eine unerbittliche Konkurrenz zwingen ihn zum Verkauf des Geschäfts.

Er ist glücklich, dass er im Oktober 2001 ohne Diplome eine Stelle als Buschauffeur bei tl findet. Er wohnt in Freiburg, steht um 4:40 Uhr auf und nimmt den Zug um 5:26 Uhr. Er ist immer bereit, Überstunden zu leisten, um das Studium seiner beiden Kinder zu finanzieren. Man hört heraus, dass er für seine Familie wenn nötig viele Opfer bringt. Nun sind die Kinder erwachsen. «Ich habe für meine Familie bezahlt, aber ich habe noch nicht für mein Land bezahlt», ergänzt er und deutet an, dass seine Zeit als Rentner noch sehr politisch werden könnte.

Hier ist die Solidarität

«Ob ich dafür kämpfe, dass meine Kinder eine bessere Zukunft haben oder meine Kolleginnen und Kollegen, das ist für mich dasselbe! Wenn Chauffeure den Ausweis und ihre Arbeit verlieren, wenn sie ihren Lohn verlieren, wie können sie für ihre Familie sorgen? Die Sicherheit der Chauffeure ist mir am wichtigsten. Ich verteidige sie bis zum Schluss!»

Cung war 20 Jahre Mitglied des SEV, ohne sich aktiv zu beteiligen. Vor wenigen Monaten hat er fürs Präsidium kandidiert und ist gewählt worden. «Was ich einbringen kann, ist meine Präsenz in der Fläche für die Fahrerinnen und Fahrer, das Werkstättenpersonal, die Leute der Metro, der Verwaltung und die Kontrolleure. Das sind alles Kämpfer, auf die ich zählen kann. Die Gewerkschaft muss zeigen, dass sie da ist. Wir sind solide aufgestellt. Wir füllen einen Saal mit mehr als 350 Personen. Das ist erst der Anfang!»

Sein Einsatz für Vietnam hat ihm dieses Gespür fürs Organisieren und für politische Wirkung gebracht. «Ich erkläre meinen Kollegen, was Solidarität ist. Dass es ein wertvolles Gut ist, das es zu pflegen gilt. Wenn sie dich vorladen, sind sie zu zweit und du bist allein. Wenn du Probleme mit deinem Dienstplan, deiner Schicht oder deinem Bus hast, mit wem sprichst du darüber? Mit deiner Gewerkschaft! Abends um sieben bin ich da, dein Manager nicht. Das ist Solidarität!» Denkt er schon an die Pensionierung? «Es sind noch 3 Jahre und 5 Monate. Aber ich mache bis zum Schluss. Ich will meine Kolleg:innen nicht im Stich lassen. Zurzeit ist dies das wichtigste. Zuerst muss ich die Dinge hier regeln, bevor ich an jene 12 000 Kilometer entfernt denken kann. Die Nachfolge steht dann bereit.» Er lässt nichts offen, Cung ist ein Kämpfer.

Yves Sancey / Übersetzung: Peter Moor
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