USA: Auf dem Weg zu einem Bahnstreik?
In den USA könnte Anfang Dezember das Bahnpersonal streiken. Es gibt zwar eine Vereinbarung über eine Lohnerhöhung von 24%, verteilt auf fünf Jahre, aber die Basis mehrerer Gewerkschaften stellt sich dagegen. Es geht um die Lebensqualität: Die Arbeitsbedingungen sind schlecht und bei Krankheit gibt es keine Lohnfortzahlungen.
Der Gütertransport auf der Strasse dominiert in den USA. Es ist ein Markt von 700 Milliarden Dollar. Mit 80 Milliarden Dollar Umsatz ist der Schienentransport jedoch im Aufwind. Angetrieben durch die hohe Nachfrage während der Pandemie, dürfte er bis 2040 um 30 % zulegen. In den USA werden über lange Distanzen rund 40 % der Güter auf der Schiene befördert. Die grossen Operateure sind BNSF, die zur Gruppe des Milliardärs Warren Buffett gehört, Union Pacific, CSX und Norfolk Southern. Mit Gewinnen zwischen 3 und 8 Milliarden Dollar gehört die Branche im Jahr 2019 zu den erfolgreichsten. Der Güterverkehr steht bei den Bahnen der USA mit 225 000 Schienenkilometern, verteilt auf 49 Staaten, klar im Vordergrund, weit weg vom Personenverkehr. Amtrak, dem öffentlichen Unternehmen des Personenverkehrs, gehören gerade einmal 3 % der Schienen.
Die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner sehen jedoch nichts vom grossen Geld. «Die Unternehmen unterschätzen andauernd den Frust und die Wut des Personals. Die Leute mögen nicht mehr», erklärte Richard Edelman dem TV-Sender CNBC. «Die Bahnen haben Milliarden auf dem Buckel ihres Personals verdient», führte der Anwalt der Gewerkschaft des Schienenunterhalts BMWED und Wortführer in den Vertragsverhandlungen aus. Die Weigerung der Arbeitgeber, Verbesserungen im Gesamtarbeitsvertrag der Branche vorzunehmen, hat zur Vorankündigung eines Streiks auf den 29. September geführt.
Die Androhung eines Streiks, der die Lieferketten stören würde, war dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden in den letzten Wochen ein Dorn im Auge, auch wenn er ein glühender Anhänger der Bahn ist. Sein Augenmerk galt den Zwischenwahlen am 8. November, die der Republikanischen Partei eine Mehrheit im Repräsentantenhaus bescherte. Vorerst gelang es Biden, den Streiktermin hinauszuschieben, indem er unter äusserstem Druck eine Vereinbarung erwirkte, nachdem die Vertragsverhandlungen zwischen den Bahnen und den Gewerkschaften während drei Jahren erfolglos geblieben waren.
Auf dem Papier scheint das Abkommen grosszügig. Es sieht eine sofortige Lohnerhöhung um 14 % vor sowie eine Erhöhung um 24 % bis 2024. Es ermöglicht zudem zusätzliche Freitage, wovon allerdings nur einer bezahlt ist, entgegen der Forderung der Gewerkschaften auf 15 Tage. Die Beschäftigten können für Routinebesuche beim Arzt frei nehmen, ohne bestraft zu werden. Weiter sieht der Plan jährliche Prämien von 1000 Dollar während fünf Jahren vor.
Bei den Verhandlungen stehen nicht die Löhne im Vordergrund, sondern Bestimmungen über Freitage und Krankheitstage. Die Beschäftigten beklagen sich auch darüber, zu lange aneinander arbeiten zu müssen, da Personal fehlt. Die Forderungen sind Ausdruck einer Drucksituation in einem Bereich, der von der Pandemie stark getroffen wurde. Die genannten, gut verdienenden Grossunternehmen der Branche haben aggressiv Kosten gesenkt und den Betrieb reduziert, um mit weniger Zügen und weniger Personal auszukommen. In den letzten sechs Jahren haben die grossen Bahnunternehmen gegen einen Drittel ihres Personals abgebaut, rund 45'000 Stellen, wobei sie die verbleibenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter häufig verpflichteten, an sieben Tagen pro Woche während 24 Stunden auf Abruf bereit zu stehen. Und dies weit weg von zu Hause. Ein Zugchef der Union Pacific erklärte kürzlich, dass die Leute «wie die Fliegen umfallen», dies auch wegen der Dienstdauer, die zuvor bei acht bis neun Stunden lag und nun bis 19 Stunden gehen kann. Zudem fehlt Personal, um die Container ins Zentrum der Staaten zu bringen, wo niemand arbeiten will, was zu Engpässen im ganzen Land führt.
Das Abkommen muss noch von den Mitgliedern der 12 Eisenbahngewerkschaften genehmigt werden. Diese vertreten insgesamt 115'000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Ablehnung in einer einzigen Organisation könnte theoretisch alle andern in einen Streik mitziehen. Bisher haben sieben zugestimmt, meist mit recht knappen Mehrheiten und teils zweifelhaften Umständen. Und es gibt vorerst drei deutliche Ablehnungen, von den Gewerkschaften des Gleisunterhalts, den Lokführerinnen und den Weichenwärtern. Das ist rund ein Drittel des Bahnpersonals. Der Termin, um eine Lösung zu finden, bevor es zum Streik kommt, wurde auf den 19. November verlegt. Drei Gewerkschaften müssen noch abstimmen. Der Kongress könnte den Streik zudem mit einem Beschluss verhindern.
Mit ihrer Gier nach schnellen Profiten haben sich die Unternehmen zweifellos verrechnet, als sie einen Drittel des Personals innert sechs Jahren abbauten, wovon viele gut qualifiziert waren, und zudem die nötigen Investitionen hinausschoben. Damit ist nicht nur der Druck auf die verbleibenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gestiegen, für die der Lohn nicht das einzige Anliegen ist, sondern es hat auch zu einem Leistungsabbau geführt, der viele Kundinnen und Kunden dazu bringt, die Strasse oder den Wasserweg der Bahn vorzuziehen. Die kommenden Wochen dürften für die Zukunft der amerikanischen Bahnen entscheidend werden.
Yves Sancey / Übers. Peter Moor
Kommentare
Rolf Schenk 29/11/2022 18:13:48
In der Schweiz sind die Verhältnisse beim Bahnverkehr zwar völlig verschieden von denen in den USA. Gemeinsam ist aber, dass die "Bosse" nicht wissen (wollen), dass sie den Erfolg dem hart arbeitenden Personal an der Front verdanken. Deshalb wäre es an der Zeit, dass auch hierzulande die Gewerkschaften einen raueren Ton anschlagen. Bereits mit einigen Tagen "Dienst nach Vorschrift" oder der Weigerung Mehrzeit zu leisten könnte man die Forderungen nach Teuerungsausgleich und Erhöhung des Reallohns äusserst wirksam untermauern. Die Führung der SBB verdient keine Samthandschuhe von Seiten der Gewerkschaften.